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Opern-Kritik: Theater Lübeck – Lucia di Lammermoor

Kleider machen Leute

(Lübeck, 9.5.2025) Anna Dreschers Inszenierung von „Lucia di Lammermoor“ am Theater Lübeck rückt Kleidung als Spiegel innerer und gesellschaftlicher Zwänge in den Mittelpunkt. Eine stimmige musikalisch-szenische Umsetzung mit klarer Symbolik und starker Ensembleleistung.

vonPatrick Erb,

Seit Jahrtausenden bestimmt in entwickelten Kulturen die Kleidung mit, wer man ist, welche Rolle man innehat oder zu welcher Gruppe man gehört – bis dahin, dass der Mensch selbst hinter seiner Funktion verschwindet. In der Nachkriegsmoderne aber hielt der Individualismus Einzug in die Alltagskleidung: Heute entscheidet man selbst, wie man gesehen werden möchte und wo man sich zugehörig fühlt. Dass Kleidung – ob selbst gewählt oder aufgezwungen – auch ein Spiegel innerer Zustände sein kann, macht Anna Drescher zum zentralen Bild ihrer neuen Inszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ am Theater Lübeck.

Drescher lässt ihre Lucia in jedem Akt ein anderes Kleid tragen: zunächst ein elegantes, klassisch rotes – Symbol für die leidenschaftliche Liebe zu Edgardo di Ravenswood. Die beiden begegnen sich heimlich in einem spätherbstlichen Wald, in dem das fallende Laub als lethargisches Sinnbild für den sittlichen Verfall der verfeindeten Familien zu Boden sinkt.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Im zweiten Akt unterwirft sich Lucia dem Druck der arrangierten Heirat und dem gesellschaftlichen Zwang. Entsprechend trägt sie ein perlweißes Brautkleid mit meterlanger Schleppe, in dem sie sich nur noch mühsam, fast schon kriechend fortbewegen kann, so tief ist ihre Erniedrigung. Die Frau ist nicht mehr Person, sondern nur noch Funktion: ein Heiratsobjekt gefangen im Kleid. Zugleich ist es aber auch ein Kokon, in den sie sich wie eine Raupe zurückzieht.

Im dritten Akt schließlich trägt sie ein leichtes weißes Nachthemd, das für die Befreiung steht, aber auch für den Übergang in eine andere Existenzform: von der gequälten Frau zur mordenden Wahnsinnigen, deren Seele dem Leben langsam entgleitet.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Chor der Untoten, lebendig gesungen

Und der Chor? Im Libretto noch eine lose Menge aus Rittern, Jägern und Dorfbewohnern, wird er bei Drescher zur düsteren Erscheinung: wie aus den nebeligen Mooren der Highlands entstiegen, zunehmend geisterhaft, eiskalt und leblos – ohne Haltung, ohne Meinung, als gespenstische Masse. Nur Zufall, dass die Gewänder an die Nachtwache aus „Game of Thrones“ erinnern? – Gesungen allemal mit großartiger Hingabe.

Blutige Lucia, großartig in Szene gesetzt

Sophia Theodorides gibt in Lübeck eine gefeierte Lucia. Mit kraftvollem Ausdruck meistert sie die Partie souverän und zeichnet eine Figur, die sich von Akt zu Akt verändert: zuerst extrovertiert und lebensfroh, dann resigniert und am Ende wahnsinnig. In der großen Wahnsinnsszene gelingen ihr die süßlich-verhaltenen Töne besonders gut – farbenreiche Koloraturen und zurückhaltende Spannung, während die frenetischen Höhen mancher Arie zuvor nicht ganz so fein herausgearbeitet sind. Eindrucksvoll ist der groteske Umgang mit dem Theaterblut, das Theodorides wild und animalisch im ganzen Mundbereich verteilt.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Heldentenor Konstantinos Klironomos verleiht seiner Interpretation des Edgardo mit Leidenschaft und karamellsüßer Farbigkeit eine gewisse tragische Komik, scheitert doch seine Vereinigung mit der geliebten – der Selbstmord – an den über ihn hereinstürzenden Untoten. Jacob Scharfman (Enrico Ashton), Noah Schaul (Arturo Bucklaw) und Changjun Lee (Raimondo) zeigen erneut die große Stärke des Theaters Lübeck, auch die Nebenrollen stark zu besetzen.

Gewohnt starkes Dirigat

Takahiro Nagasaki dirigiert das Philharmonische Orchester Lübeck mit gewohnter Leichtigkeit und einem feinen Sinn für dramatische Zuspitzung. Gemeinsam mit dem Regiekonzept entsteht eine „Lucia“, die trotz blutiger Handlung leicht, unterhaltsam, visuell klar und dabei stets nachvollziehbar bleibt – ein amüsant bebildertes Musikdrama mit düsterem Kern.

Theater Lübeck
Donizetti: Lucia di Lammermoor

Takahiro Nagasaki (Leitung), Anna Drescher (Regie), Tatjana Ivschina (Bühne & Kostüme), Jan-Michael Krüger (Chor), Falk Hampel (Licht), Jacob Scharfman, Sophia Theodorides, Konstantinos Klironomos, Noah Schaul, Changjun Lee, Delia Bacher, Wonjun Kim, Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck






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