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Opern-Kritik: Theater Lübeck – Tolomeo

Fünf Egos auf der einsamen Insel

(Lübeck, 11.10.2020) Regisseur Anthony Pilavachi und Ausstatterin Tatjana Ivschina transzendieren das Artifizielle barocker Operngestik und das derzeitige Distanzgebot zu berührendem Musiktheater, das uns ganz viel angeht.

vonPeter Krause,

Es gibt kein Entrinnen. Hohe grauschwarze Wände begrenzen den Raum, der voller Wasser steht und nur nach vorn zum Orchestergraben hin einen trockenen Steg lässt. Fünf Menschen sind in dieses unwirtliche Eiland hineingeworfen, waten durch das Nass und müssen nun für die zweieinhalb Händelstunden miteinander klarkommen. Es sind Gestrandete, die, ob sie wollen oder nicht, zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt sind. Und es sind dennoch hochgradig Vereinzelte, die es, aus ganz anderen Welten kommend, auf diese einsame Insel verschlagen hat.

Magische Blumenwiesen und ein Bonsai-König

Andrea Stadel (Elisa), Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Meili Li (Tolomeo) Aleksandar Timotić (Alessandro) Im Hintergrund: Takahiro Nagasaki (Cembalo), Imke Frank (Violoncello)
Andrea Stadel (Elisa), Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Meili Li (Tolomeo) Aleksandar Timotić (Alessandro) Im Hintergrund: Takahiro Nagasaki (Cembalo), Imke Frank (Violoncello)

Die Attribute dessen, wer oder was sie einstmals waren, tragen sie allesamt in Koffern mit sich herum. An fünf Tischen – gleichsam Inselchen des Individuellen innerhalb des gottverlassenen Gebiets – breiten sie ihre Habseligkeiten aus. Das jeweilige Gepäck – wir befinden uns schließlich in einer dem Magischen gattungsgemäß zugeneigten Barockoper – scheint mehr Inhalte preiszugeben, als darin realistischerweise Platz haben müsste. Das sopranlyrisch zwitschernde, liebreizende Unschuldslamm Seleuce (Evmorfia Metaxaki), das sich auf der Suche nach ihrem Verlobten Tolomeo als Schäferin ausgibt, entnimmt ihrem Koffer gar eine ganze bunte Blumenwiese, die sie auf ihrem Tischchen zu einem Miniidyll der Natur anrichtet. Ihr emotionales Pendant Tolomeo, der einstige König von Ägypten, der wie seine holde Geliebte verkleidet unterwegs ist, hat immerhin ein Bonsai-Bäumchen dabei, das er mit einer Nagelschere und einer Miniatur-Gießkanne pflegt. Vokal ist die Partie des legendären Kastraten Senesino am Theater Lübeck mit dem wunderbar wandlungsfähigen, anmutig anschmiegsamen wie dramatisch furiosen Countertenor Meili Li besetzt. Tolomeos Waffe aber ist ein schlichter Hirtenstab.

Die Accessoires und Insignien der Geschlechter

Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa), Aleksandar Timotić (Alessandro)
Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa), Aleksandar Timotić (Alessandro)

Die männlichen Gegenspieler des hohen Paares bleiben mit ihren Accessoires hingegen dem geschlechtsspezifischen Heldentum verpflichtet. Der baritonpolternde König von Zypern Araspe (Johan Hyunbong Choi) trägt standesgemäß Krone, hat einen Säbel, eine Peitsche und einen Käscher dabei, mit dem sich auf Inseln praktischerweise auch mal Schmetterlinge jagen lassen. Tolomeos verhasster Bruder Alessandro (noch ein toller geschmeidiger Counter: Aleksandar Timotić), der von Mutter Kleopatra auf den Königsthron gehievt wurde, wirkt mit seinen Insignien wie Brustpanzer, Fernrohr und antikem Helm geradewegs wie der typische einem Sandalenfilm entsprungene Feldherr. Ganz barockes Biest und koloraturenspuckende Zicke ist Elisa, die Schwester des Königs Araspe. Sie entnimmt, standesgemäß mit gleich drei Koffern reisend, ihrem Gepäck Perücken, Schminkmaterial, unzählige Büstenhalter und ebenso viele Perlenketten. Andrea Stadel bestückt die Paradepartie der Faustina Bordoni, Johann Adolf Hasses berühmter, dann auch Händels London begeisternder italienischer Gattin, dazu mit lustvoll exaltierter Sopranperfektion.

Ironische Versuchsanordnung über die Barockoper und ihr scharf gezeichnetes Typentheater

Aleksandar Timotić (Alessandro), Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa), Meili Li (Tolomeo) Im Hintergrund: Takahiro Nagasaki (Cembalo), Imke Frank (Violoncello)
Aleksandar Timotić (Alessandro), Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa), Meili Li (Tolomeo) Im Hintergrund: Takahiro Nagasaki (Cembalo), Imke Frank (Violoncello)

Was Regisseur Anthony Pilavachi und Ausstatterin Tatjana Ivschina hier also auf die Bühne bringen, gleicht zunächst einer sanft ironischen Versuchsanordnung über die Barockoper und ihr scharf gezeichnetes Typentheater. Dazu passt perfekt, dass Pilavachi das Bewegungsvokabular seiner Protagonisten behutsam an die Gestik des Barocktheaters anlehnt. Gespreizte Finger der Egozentrik, sehnsuchtsvoll langgestreckte Arme oder bedeutungsschwangeres Deuten sind dabei freilich niemals beliebige barocke Zeichen. Denn Pilavachi transzendiert das streng Formale dieser affektsatten Kunst stets ins Inhaltliche. Womit er im übrigen aus den hier in Schleswig-Holstein in Proben wie Vorstellungen streng praktizierten Distanzregeln Kapital zu schlagen weiß. Die Vereinzelung der Figuren und ihre Selbstbezogenheit sowie gerade deshalb auch ihre stete verzweifelte Suche nach Nähe, ihr Erspüren erotischer Energien, ihr Spiel mit Begehren, Rache und Eifersucht – all dies wird umso stärker Ereignis, als es nicht mit echten Berührungen und konkreter Nähe verbunden werden darf. Das Artifizielle der gestischen Barockoper wie das Distanzgebot unserer Zeit begegnen sich – und Händels reifes, in der Reduktion auf das Wesentliche (mit verblüffend knappen, selten in Da-capo-Ewigkeit schwelgenden Arien!) so meisterhaftes Londoner Werk wird auf einmal ganz enorm modern und heutig.

Aha-Effekte des Das-sind-ja-wir

Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Aleksandar Timotić (Alessandro), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa)
Evmorfia Metaxaki (Seleuce), Aleksandar Timotić (Alessandro), Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa)

Diese kuriosen Heldenkarikaturen gleichen uns verunsicherten Männern von heute, diese scheinbaren Idealbilder von barocken Damen den nach angemessenen Geschlechterrollen suchenden Frauen des 21. Jahrhunderts. Das Spiel mit den multiplen Ebenen gerät Pilavachi einfühlsam, höchst genau und mit verblüffenden Aha-Effekten: Wenn er den Vereinzelten Utopiemomente des Zusammenfindens gönnt – wie in den herrlichen Duetten von Tolomeo und Seleuce. Oder wenn er Elisa die Entwicklung von der sich egoman inszenierenden Furie zur befreiten Frau zugesteht, die am Ende ihre Accessoires ablegt, sich verletzbar macht und sich den beiden Liebenden durch Zuschauen und Zuhören empathisch zuwendet. Wenn er zum offiziellen Happy End noch einmal die Frage nach Schein, Sein und Spiel, nach Illusionen, Geheimnissen und Täuschungen, nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit stellt und damit das Ende bewusst offen lässt. Wir haben viel gewonnen, wenn die Oper es wieder, es immer noch kann, uns für derlei genuin Menschliches zu sensibilisieren. Das Berührungspotenzial der Musik trägt dazu entscheidend bei. Die fünf herrlichen Sängerdarsteller und ein mit farbenreich warmem, Anteil nehmendem Händelklang aufwartendes Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck unter seinem Chef Stefan Vladar beweisen es eindrucksvoll.

Theater Lübeck
Händel: Tolomeo

Stefan Vladar (Leitung), Anthony Pilavachi (Regie), Tatjana Ivschina (Ausstattung), Falk Hamel (Licht), Meili Li, Evmorfia Metaxaki, Andrea Stadel, Aleksandar Timotić, Johan Hyunbong Choi, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

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