Opern-Kritik: Wiener Kammeroper – Tristan Experiment

Tristans Treibhaus-Triebe

(Wien, 17.6.2021) Günther Groissböck, der Wagnerbass mit Stimmgranit, wagt seine erste Wagner-Regie – und gewinnt mit einer Version der kammermusikalischen Reduktion und Intimität.

© Herwig Prammer

Szenenbild aus „Tristan Experiment“

Szenenbild aus „Tristan Experiment“

Richard Wagner dachte, lebte und arbeitete gern groß, seine Feinde mögen gar sagen: im Größenwahn. Einmal indes wollte er zeigen – inmitten der gigantischen, vierzehn Musikstunden umfassenden „Ring“-Komposition, dass er sich auch beschränken konnte, dass er über den klug reduzierten Einsatz seiner sonst extra üppigen Mittel verfügte. „Tristan und Isolde“ sollte ein leicht zu realisierendes Kammerspiel der Liebe werden, ganz fokussiert auf Liebeslust und Liebesleid dieses alle Grenzen des Sittsamen übersteigenden Paares. Wir wissen heute: Es sollte ganz anders kommen. Die Orchester zu Lebzeiten des Meisters hielten die Partitur für unaufführbar. Noch heute gehört die männliche Titelpartie unter den Heldentenören zu den gefürchtetsten Stimmkillern. Und die ursprüngliche Absicht, sich in der Wahl seiner Mittel zu beschränken, schlug dann doch gründlich fehl. Dies sollte freilich Theater der Gegenwart nicht davon abhalten, ein Experiment zu wagen: Wie ließe sich das mit so kryptischem Understatement „Handlung“ genannte Musikdrama „Tristan und Isolde“ derart auf seine Essenz, seine Macht des Wesentlichen zurückführen, dass die Absicht ihres Schöpfers womöglich besser zum Ausdruck kommt als im orchestralen und sängerischen Gigantismus, als in großer überwältigender Ausstattung?

© Herwig Prammer

Kristiane Kaiser (Isolde), Norbert Ernst (Tristan)

Kristiane Kaiser (Isolde), Norbert Ernst (Tristan)

Innen und Außen, Fantasie und Realität verschwimmen.

Das Theater an der Wien, das auch die Wiener Kammeroper betreibt, wagte nun, was Wagner wollte – im denkbar intimen Rahmen des kleinsten Musiktheaters der immer noch zentralen europäischen Musikmetropole. Der Dirigent Hartmut Keil schuf die Fassung gemeinsam mit Günther Groissböck, der als Wagnerbass in Bayreuth zu den gefragtesten Stimmen seines Fachs gehört und im Coronajahr Nr. 1 im Mekka des Wagnertums eigentlich den Wotan hätte geben sollen. Nun gab er sein Regiedebüt. Das Arrangement für Kammerorchester stammt von Matthias Wegele. Und das Konzept der Inszenierung ist denkbar wienerisch. Groissböck legt Tristan und Isolde zwar nicht wortwörtlich auf die Couch des Dr. Freud, aber er lässt die Liebenden von zwei Pflegern in den beiden am Bühnenportal postierten Foltersesseln fixieren.

© Herwig Prammer

Kristján Jóhannesson (Kurwenal/Melot), Norbert Ernst (Tristan)

Kristján Jóhannesson (Kurwenal/Melot), Norbert Ernst (Tristan)

In weißen OP-Kitteln (es sind fast schon Zwangsjacken) treffen zum Vorspiel der Oper eine Frau und ein Mann aufeinander. Sie umkreisen sich, beobachten sich, ihre Hände kommen sich nah, berühren sich erstmals fast unschuldig keusch. Die beiden sind Probanden eines Experiments („Tristan Experiment“ heißt das Stück hier denn auch), ob sie als Patienten eine gemeinsame Vorgeschichte haben, bleibt vielsagend in der Schwebe, ob sie als Patienten an einer einschlägigen Störung leiden oder einmal litten, bleibt ebenso ungesagt. Aufregend freilich ist, dass zwei Menschen in diesem klinischen Laborweiß ganz auf sich zurückgeworfen werden, dass hier, weit von der Welt, die sonst so strikt abgeschirmten Welten des Innen und Außen, der Fantasie und der Realität, alsbald verschwimmen.

Schöpfer und künstlerische Geschöpfe werden eins.

© Herwig Prammer

Kristiane Kaiser (Isolde), Norbert Ernst (Tristan)

Kristiane Kaiser (Isolde), Norbert Ernst (Tristan)

Was Wagner „Wunderreich der Nacht“ nennt, entdecken die beiden im Übergang vom ersten zum zweiten Aufzug; die beiden Akte sind in der geschickten Kürzung zu einem einzigen zusammengezogen. In einer orchestralen Verwandlungsmusik werden aus den beiden weiß Gewandeten, die womöglich Tristan und Isolde heißen, zwei historische Persönlichkeiten, die einst die eigentlichen Schöpfer des Wunderwerks und damit auch jene ihrer eigenen Personen waren: Mathilde Wesendonck und Richard Wagner. Schöpfer und Geschöpfe werden eins. Ob dies das heimliche Ideal der Realisierung eines Kunstwerks ist? Es wirkt unfasslich authentisch, wie Norbert Ernst und Kristiane Kaiser diese Wandlung vollziehen. Da haben die Maske und das Kostüm (Ausstattung: Stefanie Seitz) ganze Arbeit geleistet. Und die beiden grandiosen Sängerdarsteller haben sich intensiv eingefühlt in das Seelenleben der beiden Menschen, die den Skandal einer unmöglichen und unerlaubten Liebe lebten.

Die Sogkraft dieser hemmungslosen Triebe im Treibhaus im Liebesduett ist maximal, was auch am Inszenierungsfeingefühl liegt, das einen hohen Abstraktionsgrad geschickt mit der historisch konkreten Benennung der Figuren verbindet. Nicht zuletzt liegt es an der fantastischen stimmlichen Beherrschung der beiden: Kristiane Kaiser hat die durchschlagende Dramatik wie den mädchenhaften Überschwang der Isolde, Norbert Ernst die heldentenorale Attacke wie eine anrührende Pianofähigkeit für den Tristan. Der Wiener kann bald zu einer ernsthaften Alternative im leergefegten Markt der Tristan-Tenöre werden. Günther Groissböck höchstselbst gibt den König Marke mit einem Bass wie aus Granit, der gerade deshalb in seiner emotionalen Verletzbarkeit enorm berührt.

© Herwig Prammer

Kristiane Kaiser (Isolde)

Kristiane Kaiser (Isolde)

Ein Wagner-Wurf und das wirklich Wesentliche

Viel Feines ist ihm als Regisseur eingefallen: das gemeinsame Dichten und Komponieren des hohen Zürcher Paares, mit dem zarten Höhepunkt, zu dem Tristan die Zeilen seiner Geliebten liest und liebkost. Oder der letzte Blick (in dieser Oper der vielen magischen Liebesblicke) des Sterbenden hinauf zu seiner Isolde-Mathilde, die ihn im Liebestod fürwahr „mild und leise“ (sic!) in eine andere Welt hinübersingt. Wenn Wünsche offenbleiben, dann vielleicht jener: Das Orchester von rund 20 Mitgliedern ließe sich sogar noch weiter abspecken, die Erweiterung mit Akkordeon schafft Magie, der Streichersatz indes könnte noch transparenter und dadurch noch transzendenter sein. Ein echter Wurf ist hier dennoch entstanden. Und ein Aufruf, über die Möglichkeit der Aufführung dieses unmöglichen Werks neu nachzudenken – im Sinne einer Reduktion auf das wirklich Wesentliche.

Theater an der Wien in der Kammeroper
Wagner: Tristan Experiment

Hartmut Keil (Leitung), Günther Groissböck (Regie), Stefanie Seitz (Ausstattung), Philipp Batereau (Videodesign), Franz Tscheck (Licht), Norbert Ernst, Kristiane Kaiser, Günther Groissböck, Juliette Mars, Kristján Jóhannesson, Wiener KammerOrchester

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