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Opern-Kritik: Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin – Stoff (UA)

Aller Müll ist Wertstoff

(Schwerin, 6.4.2024) Diese Novität verdient es, nachgespielt zu werden: Autorin und Regisseurin Nina Gühlstorff und Komponistin Elisabeth Naske ersinnen mit „Stoff“ ein Mutmach-Stück. Schaffen wir Menschen es, unser Konsumverhalten dem Kreislauf der Natur einzuschreiben?

vonMichael Kaminski,

Zunächst die Hoffnung stiftende Erkenntnis aus dieser Novität „Stoff“ von Autorin Nina Gühlstorff und Komponistin Elisabeth Naske: Menschen sind Nützlinge. Freilich nur dann, wenn sie ihr Konsumverhalten dem Kreislauf der Natur einschreiben. Noch sieht es oft anders aus. Das beweist jene exemplarische Vertreterin der Gattung, welche die ohnehin mit Unrat bedeckte Bühne der M*Halle, einer Spielstätte des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin in einer früheren Zeitungsdruckerei, weiter zumüllt, wenn sie Verpackungen, Mobiltelefone und modische Accessoires nicht gerade im Publikum entsorgt.

Einer darob entsetzten Kinderschar befiehlt sie, ihre und die anderen Hinterlassenschaften zu beseitigen, um Platz für die neuerliche Verschmutzung des Terrains zu schaffen. Keine Frage, die Frau hat das Zeug zur bösen Stiefmutter. Die Kinder degradiert sie zu multiplen weiblichen und männlichen Aschenputteln. Das große Fest, nach dem sich die Mädchen und Jungen sehnen, scheint unendlich fern. Doch schließt das Ganze freudig mit altägyptischen Hymnen auf Leben, Licht und Sonne. Autorin und zugleich Regisseurin Nina Gühlstorff ersinnt im Verein mit Elisabeth Naske ein im Untertitel als „Zirkuläres Musiktheater“ ausgewiesenes Mutmach-Stück.

Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin
Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Die böse Stiefmutter hat nicht das letzte Wort. Denn wie dem Grimmschen Aschenputtel stehen den Kindern zwei hilfreiche Tauben bei. Kenntnisreich, ironisch und so charmant, dass selbst an den Ausführungen zum Thema Exkremente nichts Anrüchiges haftet, erläutern sie den Aschenputteln und dem Publikum die Müllproblematik. Im Video besteigen sie dazu auch die höchste Erhebung der Region, den Ihlenberg im Nordwesten Mecklenburg-Vorpommerns, eine Mülldeponie.

Die Leben spendende Sonne

Spätestens jetzt ist klar, wohin die Menschheit mit ihrem Konsum gelangt ist. Zeit daher, um sich mit den Ensemblemitgliedern in Mini-Workshops zu begeben. Der von den beiden Tauben abgehaltene zeigt auf, wie die schwierige Entsorgung von Waschmaschinen zu lösen ist, nämlich durch Anmietung derselben und Rücknahme durch den Hersteller. Zudem, dass Champagner seiner Flaschengärung halber eine positive CO2–Bilanz aufweist.

Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin
Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Luxus für den Umweltschutz! Wer ließe sich dies das zwei Mal sagen? Final geht es für Solisten und Solistinnen samt Kinderchor zurück auf die Bühne. Auch das Publikum mischt sich dort unter das Ensemble. Aus dem steil ansteigenden Auditorium aber bewegt sich die Leben spendende Sonne auf die Menschheit zu.

Eingängige Komposition

Entscheidend zur dramaturgischen Schlüssigkeit und emotionalen Glaubwürdigkeit des Gühlstorffschen Textes trägt Elisabeth Naskes Partitur bei. Der Orchestersatz für die kammermusikalische Besetzung ist moderat zeitgenössisch, im Wesentlichen illustrativ und scheut nicht vor Anspielungen auf’s Populäre. Die Vokalpartien für Solistinnen und Solisten wie auch für den Kinderchor sind rhythmisch prägnant, sie bewegen sich – ohne unterkomplex zu sein – auf melodisch schlicht gehaltener Linie.

Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin
Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Trefflich fängt Naske Gang, Gurren und Picken der beiden Tauben ein. Der das Werk beschließende Sonnengesang atmet unpathetische, doch innige Feierlichkeit. Für alles dies ersinnt Bühnen- und Kostümbildnerin Marouscha Levy eine Szenerie aus effektvoll drapierten und aus dem Bühnenhimmel auf die Bretter sinkenden Kunststoffbahnen; natürlich sind sie aus einer anderen Produktion wiederverwertet. Auch die Kostüme sind zumeist recycelt, selbst die der beiden entzückend anzusehenden Tauben.

Bestechende Ensembleleistung im Verein von Groß und Klein

Die musikalische Umsetzung plädiert restlos überzeugend für die Novität. Josephine Johannßen motiviert den Kinderchor des Mecklenburgischen Staatstheaters und Reinhild Köhncke den der Nils-Holgersson-Schule, sich ebenso schönstimmig wie spielfreudig ins Bühnengeschehen einzubringen. Heng Che weiß mit den etwa einem halben Dutzend Musikern der Mecklenburgischen Staatskapelle einen Klangteppich für das Ensemble auf der Bühne auszubreiten.

Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin
Szenenbild aus „Stoff“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Für die beiden sehr unterschiedlichen Rollen von sich an der Umwelt versündigendem Menschen und allbelebender Sonne bietet Sophia Maeno ein reiches Spektrum von Stimmfarben auf. Mit wendigem Spieltenor verkörpert Sebastian Köppl den Täuberich Livius. Als Taube Paria gewinnt Martha-Luise Urbanek durch ihren leicht ansprechenden Mezzo. Maeno, Köppl und Urbanek zeichnen sich zudem durch vorbildliche deutsche Diktion auch in den Sprechpassagen aus.

„Stoff“ ist bestes prodesse et delectare nicht allein für Kinder. Auch Erwachsene dürfen sich ausgezeichnet unterhalten fühlen und verlassen das Stück mit einem Zuwachs an Wissen und Einsichten. Die Novität verdient nachgespielt zu werden.

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Naske: Stoff (UA)

Heng Che (Leitung), Nina Gühlstorff (Regie), Marouscha Levy (Bühne und Kostüme), Marie-Laure Fiaux (Choreografie), Ben Artmann (Video), Alexander Bauer  (Elektronik), Josephine Johannßen (Leitung Kinderchor des Mecklenburgischen Staatstheaters), Reinhild Köhncke (Leitung Kinderchor Nils-Holgersson-Schule), Sophia Maeno, Sebastian Köppl, Martha-Luise Urbanek, Florentina Stoll, Kinderchor des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, Kinderchor der Nils-Holgersson-Schule, Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin

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