Die Händel-Bearbeitungen des Kunstwissenschaftlers Oskar Hagen (1888-1957) für die Akademische Orchestervereinigung Göttingen spielten Theater in Deutschland und Amerika. Durch diese entdeckte die Weimarer Republik seit 1920, dass es von Händel weitaus mehr gibt als Largo, Messias und Wassermusik. In der Nachkriegszeit blieb Göttingen neben den 1977 gegründeten Karlsruher Händel-Tagen der wichtigste Händel-Standort Westdeutschlands.
„100 Jahre Händel-Renaissance“ war der 2020 durch Corona verhinderte Jubiläumsanlass der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Nach Veröffentlichung von Göttinger Opernaufzeichnungen in der NDR-Mediathek, welche über die wegen Corona entfallenen Festspiele 2020 mit allen Händel-Opern hinwegtrösten sollten, und digitalen Beiträgen im Mai 2021 feiern die Händel-Festspiele vom 9. bis zum 19. September mit Aufführungen von „Rodelinda, regina die Langobardi“. Diese Opera seria war die erste Bearbeitung Hagens und wurde ein Bravourstück für Sängerinnen wie Erna Berger, Joan Sutherland und Renée Fleming. In deren Einspielungen zeigt sich der Wandel des Aufführungsideals von Händel-Opern durch die Jahrzehnte. Im Deutschen Theater Göttingen gelangt „Rodelinda“ als Koproduktion mit dem Staatstheater Oldenburg auf die Bühne. Dorian Dreher (Inszenierung) und Hsuan Huang (Ausstattung) sind die Gewinner des ersten Regie-Wettbewerbs der Händel-Festspiele, von dem sich die Veranstalter „frische Akzente für die Händel-Interpretation der Zukunft“ in Verbindung mit historisch informierter Aufführungspraxis versprechen. Die Bewerbungen setzten sich mit Zeitumständen nach dem Ersten Weltkrieg, welche 1920 auf die Göttinger Bühnendarstellung des während der Völkerwanderung spielenden Heimkehrerdramas einwirkten, auseinander.
Kontinuität und Wandel
Für die Festspiele sind Brückenschläge in die Region, in die breite Vielfalt performativer Formate und Vermittlungsangebote ein besonderes Anliegen. „Ariodante“ erklingt in der PS Halle Einbeck, „Giustino“ in der Stadthalle Osterode am Harz. Das bereits im Herbst 2019 begonnene und von der Pandemie beeinträchtigte Jugendprojekt „Ezio: Game of Rome. Eine HipHOpera“ findet als Filmvorführung mit Moderation statt. „Rodelinda“ gibt es auch als einmaliges Public Viewing und in einer Familienfassung.
Die große Jubiläumsgala zeigt Kontinuität und Wandel der Göttinger Händel-Rezeption. Ans Pult treten die drei künstlerischen Leiter, welche seit John Eliot Gardiner die Händel-Festspiele profilieren: Nicholas McGegan (1991-2011) dirigiert Ausschnitte aus „Rinaldo“, Laurence Cummings (2011-2021) verabschiedet sich mit Arien aus „Xerxes“ und George Petrou (ab 2022) wählte für seinen ersten Auftritt mit dem FestspielOrchester Göttingen eine Szenenfolge aus „Publio Cornelio Scipione“. Cummings hinterlässt einen Zyklus erstklassiger Opern- und Oratorien-Einspielung mit Raritäten wie „Rodrigo“ und Händels spannender Brockes-Passion. Zudem können die Händel-Festspiele auf ihre digitale Festspielchronik stolz sein. Wie man Da-Capo-Arien gestaltet, steht auch in Beziehung zur Zeit- und Weltgeschichte.