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FESTIVALGUIDE Festspiele Mecklenburg-Vorpommern 2015

Unerhörte Orte, klingende Landschaften

Musik von allen Seiten begreifen: Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern verblüffen mit innovativen Konzertideen und Brückenschlägen zu anderen Künsten

vonChristoph Forsthoff,

Ein Rebhuhn flattert erschrocken auf, als sich die fast 200 Menschen ihren Weg durch das verwachsene Gestrüpp am Feldrand bahnen. Schlehen-Sträucher wiegen ihre knorrigen Zweige im lauen Sommerwind, zwischen hüfthohen Brennesseln zieht eine Schnecke ihre Spur. Und plötzlich taucht sie auf, die „Wüste Kirche“, Ziel dieses „Musikalischen Spaziergangs“: Einst Mittelpunkt des Dorfes Domherrenhagen ward der romanische Sakralbau aus Feldstein und Granit bereits im 15. Jahrhundert wieder verlassen, verlor im 30-jährigen Krieg sein Dach – heute künden inmitten einer verwunschenen Landschaft nur noch die Reste des Fundaments und der Giebelwände von der ehemaligen Nutzung. Und doch beschert eben diese Ruine dem Publikum den vielleicht magischsten Moment des dreitägigen Festivals „360° Streichquartett“ auf Schloss Ulrichshusen, als kurz darauf in den Mauerresten des einstigen Kirchengiebels das Belcea Quartet die Kantilene des Mittelsatzes aus Brittens letztem Quartett im vielfachen Pianissimo ersterben lässt …

Unverwechselbare Formate in Gemeinschaft erleben

„Ich möchte, dass unsere Besucher hier etwas erleben, das sie etwa in Berlin in der Philharmonie so nicht haben, denn da gibt es nur das normale Konzert“, umreißt Markus Fein, Intendant der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern seine dramaturgische Idee für dieses Festival im Festival. Seit Anfang letzten Jahres zieht der schlanke Mann mit den jungenhaften Zügen die Fäden beim drittgrößten Klassik-Festival der Republik: Ein passionierter Musikvermittler, der mit Programmen von der Stange nichts im Sinn hat, stattdessen den Künstlern oft seine fertigen dramaturgischen Konzepte mitbringt. „Wir wollen weg vom klassischen Konzertbesuch, hin zu einem neuen Zuhören, einem Musikerlebnis in der Gemeinschaft.“ Manchem mögen solche Sätze wie die Sprache von Werbern dünken, doch im Falle des Intendanten sind es in der Tat erlebbare Worte: Nicht nur in Gestalt neuer Spielstätten oder der Reihe „Junge Elite“, die alle Sommer wieder fantastische Nachwuchs-Künstler entdeckt; nein, Fein hat schon in seinem ersten Jahr verschiedene unverwechselbare Konzertformate für die drei Festspiel-Monate entwickelt und setzt diese Aufbrüche im Sommer 2015 fort.

Entdeckungsreisen und musikalische Visionen

So laden neben der „Landpartie Junge Elite“ mit ihrer (kunst-)historischen Erkundung der Spielstätten der „Pavillon 1808“ und der „Pavillon der Zukunft“ zum Brückenschlag zu den anderen Künsten der jeweiligen Epoche ein: mit Wandelkonzerten, einer Komponierwerkstatt und gleich mehreren „Salons visionaire“ zur Zukunft des Konzertlebens oder des ländlichen Kulturraums. Denn Fein geht es um das „Aufschließen neuer Hörräume“, wenn etwa in diesem Jahr in der Reihe „Unerhörte Orte“ architektonische Entdeckungsreisen zu Spielstätten unternommen werden, in denen noch nie klassische Musik erklang. Da stapfen dann Kagels Zehn Märsche um den Sieg zu verfehlen durch die ehemalige, gigantomanische „Kraft durch Freude“-Anlage der Nazis in Prora auf Rügen, und Architekten diskutieren Geschichte und Zukunft dieses bizarren Orts. Oder es wurde vergangenen Sommer bei „360° Streichquartett“ versucht, die Faszination des klassischen Vierers zu ergründen: Inmitten des Publikums verteilten sich die Streicher, und Organisationsforscher Christian Scholz diskutierte mit Eckart Runge, Gründer des Artemis Quartetts, die vermeintlichen Gegensätze Perfektion und Abenteuer oder ob die Musiker besser „Teamplayer“ oder starke Einzelpersönlichkeiten sein sollten.

„Wir wollen den Residenzcharakter, den wir bei den Künstlern mit unserer ‚Preisträger-Familie‘ pflegen, aufs Publikum übertragen“, skizziert der Festspiel-Chef einen seiner Leitgedanken, „und so die Formen des Hörens aktualisieren und intensivieren.“ Was im August nun der wohl populärste Bratscher unserer Tage mit „360° Viola“ fortsetzen soll: Nils Mönkemeyer wird nicht nur drei Tage lang mit Freunden Kammermusik für sein Instrument entdecken, sondern auch über deren melancholische Seiten sinnieren, mit einem Geigenbauer an einer Bratsche werkeln oder gemeinsam einen Ausflug in die malerische Landschaft unternehmen.

Besucherrekord: Das Publikum honoriert die neuen Ideen

Und das Publikum, kleines Wunder eines ansonsten immer schnelllebigeren Konzertbetriebes, zieht mit: Nicht nur, dass sich fast alle Besucher für die „Landpartien“ einen ganzen Tag Zeit nehmen, auch die diversen Veranstaltungen des dreitägigen „Intensiv-Seminars Streichquartett“ waren 2014 bereits ein Vierteljahr vorher ausgebucht. Ebenso wie der „Jahrmarkt der Sensationen“, der für zehn Tage durch Mecklenburg-Vorpommern reiste: Inspiriert von Fellinis berühmten Kino-Melodram La Strada schufen die Festspiele hierfür eigens eine Jahrmarktsfanfare, nostalgische Kostüme sowie eine Wanderbühne, auf der die Weltmusiker des bayerischen Ensembles Quadro Nuevo mit Pantomimen, Verwandlungskünstlern und Tuchartisten durchs Land zogen. Dass die Klassik dabei allenfalls noch eine Nebenrolle spielt(e), stört den Intendanten nicht: „Das ist doch ein überholtes Spartendenken – entscheidend ist der Kunstanspruch.“

Pianist Rudolf Buchbinder und die schönen Pinguin-Fräcke

Überholt ist für den promovierten Musikwissenschaftler auch der von vielen Festivals und Kulturinstitutionen nach wie vor gepflegte Konkurrenz-Gedanke: „Wenn es andernorts richtig brummt, profitieren wir doch nur davon, weil die Menschen sehen, wie wichtig Kultur ist.“ Und die Zahlen geben ihm Recht: 2014 schloss die Sommersaison mit einem Rekord von 73 000 Besuchern ab, nicht zuletzt ob der neuen Konzertformate zieht es auch aus anderen Bundesländern immer mehr Gäste zu den Festspielen. Denn selbst bei vermeintlichen „Star-Auftritten“ setzt Fein individuelle Noten: Mit Rudolf Buchbinder kam der Intendant zwei Stunden vor dessen Auftritt auf dem Landgestüt Redefin noch zu einer Plauderrunde zusammen – und das Publikum in der Reithalle war hingerissen, als der geniale Beethoven-Pianist mit Charme und Witz von seinem Konzertdebüt als Elfjähriger im Wiener Konzertverein in kurzen Hosen erzählte oder seinen „Wunsch-Spielort“ verriet: „Ich würde gern einmal am Südpol auftreten – wegen der Pinguine, die diese schöne Fräcke tragen …“ Markus Fein sinnt bestimmt schon darüber nach, wie sich aus dieser Idee ein neues Konzertformat entwickeln lässt.

Die Festivaldaten im Überblick:

Zeitraum: 17.6. – 15.9.2017

Ort: Neubrandenburg, Schwerin, Redefin, Rostock, Wismar, Ulrichshusen, Neustrelitz, Güstrow, Klütz u. a.

Künstler: Nils Mönkemeyer, Fauré Quartett, Daniel Müller-Schott, Veronika Eberle, Simone Kermes, Armida Quartett, Matthias Schorn, Avi Avital, Berliner Philharmoniker, Kit Armstrong u. a.

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