Blind gehört David Geringas

„Die Schallplatte ist eine verkehrte Welt“

Der Cellist David Geringas hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

© Dmitri Matvejev

David Geringas

David Geringas

David Geringas ist einer der renommiertesten Cellisten der Welt. Der Litauer, der 1970 den Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, kam 1976 als Erster Solo-Cellist des NDR Sinfonieorchesters nach Hamburg, als Professor unterrichtete er in Lübeck und bis 2009 in Berlin. Zu seinen Schülern gehören Sol Gabetta, Maximilian Hornung, Jens Peter Maintz, Johannes Moser und Wolfgang Emanuel Schmidt.

 

Bach: Suite für Violoncello solo G-Dur BWV 1007
Boris Pergamenschikow (Violoncello) 1998
hänssler Classic

Das spielt jemand, der sich mit der Aufführungspraxis intensiv auseinandergesetzt hat. (2. Satz) Ich finde es hervorragend von der Auffassung, von der Auseinandersetzung her. Ich könnte mir etwas mehr Kontrast zwischen beiden Sätzen vorstellen, bei mir ist der erste Satz eine virtuose Eröffnung und die Allemande etwas sehr Meditatives. Aber sehr klug gespielt, tonlich sehr erfüllt. Pergamenschikow? Das letzte Mal habe ich ihn mit Bach vor 25 Jahren gehört, da hat er noch ganz anders gespielt. Er hat sich sehr inspirieren lassen von Gustav Leonhardt, er war ein sehr kluger und intellektueller Mensch – und sehr konsequent. Dabei könnte man bei manchen Komponisten vielleicht auch inkonsequent sein. Vielleicht wollte der Komponist es improvisierter haben und schrieb deshalb Bezeichnungen, die sich manchmal widersprechen. Und wir fangen an zu überlegen, was richtig ist. Anna Magdalena Bachs Abschrift ist absolut inkonsequent, und es ist manchmal schwer, dem nachzugeben. Was Pergamenschikow hier macht, ist das Gegenteil: Er durchdenkt alle möglichen Varianten, entschließt sich für eine Lösung und arbeitet das Stück dann zielstrebig durch. Das ist eine große schöpferische Arbeit, die sehr viel Freude beim Zuhören bereitet. Ich selbst gehe den Weg des Erfahrens, man lernt mit jedem Jahr dazu. Mit dem Spielen ist es wie mit dem Erzählen. Je nach Stimmung erzählt man eine Geschichte unterschiedlich, und manchmal kommt man spontan auf Lösungen und Gedanken. Die Aufgabe des Musikers ist es, die Herzen der Zuhörer zu erreichen. Wie man das macht, hängt von vielen Faktoren ab, Ausbildung, Gewohnheit, Geschmack. Es ist wichtig, viel zu wissen. Ich habe zum Beispiel ein fünfsaitiges Cello und spiele Baryton. Aber es geht nicht darum, zu zeigen, was wir wissen. Es geht um den Inhalt, die Emotion, den Geist, alles andere ist nur Mittel zum Zweck. Und es gibt Musiker, die so überzeugend sind, dass es egal ist, was und wie sie spielen.

Dvořák: Cellokonzert h-Moll op. 104

Mstislaw Rostropowitsch (Violoncello)

London Philharmonic Orchestra

Carlo Maria Giulini (Leitung) 1977

Warner Classics

(nach wenigen Tönen) Das ist Rostropowitsch. Er ist ein Teil meines Lebens, ich habe mit ihm zehn Jahre verbracht. Ihn erkenne ich sofort an seinem Spiel. Am Rubato, an dieser unverwechselbaren Energie, an allem. Ich höre, dass alle anderen nicht so gut sind wie er. Als er seine ersten Konzerte in New York, in London, in Prag gegeben hat, war das wie ein Naturereignis – man war überwältigt. Ich möchte die Werke so hören, wie er sie gespielt hat. Er hat sie jedes Mal anders gespielt, und trotzdem klingt es immer wie Rostropowitsch. Er spielte spontan, und das hat er von uns Studenten immer verlangt: Die Musik muss so klingen, als spiele man sie zum ersten Mal. Was kann ein 17jähriger Junge darunter verstehen? Aber wenn man 65 wird, weiß man genau, was gemeint ist. Was wir gelernt haben, interessiert im Konzert niemanden. Wichtig ist, was jetzt passiert. Aber das zu können, verlangt viele Jahre der Auseinandersetzung. Die Schallplatte ist eine verkehrte Welt. Sie konserviert, was einmal gewesen ist, und wiederholt das immer wieder. Das ist eigentlich gegen die Musik. Warum ich so viele CDs aufnehme? Als Erinnerung. Das unterstützt auch meine Erinnerung. Außerdem gibt es viele Werke, die man im Konzert nie hört. Da ist es gut, dass es eine CD gibt. Ich mag es aufzunehmen. Diese Arbeit bringt mich auf neue Wege, neue Gedanken, sogar beim Schneiden kommt man auf neue Ideen. Aber was ich unter Musik verstehe, ist das, was im Moment erklingt, mit allen Unebenheiten. Und das ist jedes Mal etwas anderes.

Brahms: Doppelkonzert a-Moll op. 102

Jacques Thibaud (Violine)

Pablo Casals (Violoncello)

Pablo Casals Orchester Barcelona, Alfred Cortot (Leitung) 1929

Naxos Historical

Auch Casals erkennt man sofort. Er hat eine Tongebung, die sehr typisch ist. Mir gefällt das zügige Tempo, und sie spielen nicht rhapsodisch frei, sondern sehr genau. Hier zum Beispiel: Diese Triolen nehmen sehr viele Geiger viel langsamer. Wie hier das zweite Thema gespielt wird, entspricht allerdings nicht meiner Auffassung, da wünsche ich mir mehr Zärtlichkeit und Poesie. Ansonsten wird hier versucht, den ersten Satz eher sinfonisch zu betrachten und aus einem Guss zu spielen. Das gefällt mir sehr an dieser Einspielung.

Goldschmidt: Konzert für Violoncello & Orchester op. 23

Julian Steckel (Violoncello)

Staatsorchester Rheinische Philharmonie

Daniel Raiskin (Leitung) 2009

CAvi

Ist das die neue Aufnahme von Steckel? Es ist toll, wie er da rangeht. Viel zu wenige Cellisten haben den Mut, solche Werke zu spielen. Als man mich 2003 gefragt hat, ob ich Lutoslawski oder Goldschmidt spielen wollte, habe ich gesagt: Goldschmidt. Weil es sonst niemand spielt… Das hier ist gut gespielt, aber ich wünsche mir mehr Substanz vom Orchester. Als ich die deutsche Erstaufführung in Magdeburg gespielt habe, war der 91jährige Goldschmidt gekommen und er sprach von der Bühne aus mit dem Publikum, das war faszinierend. Wie schön, dass er damals noch dabei sein konnte.

Haydn: Konzert für Violoncello & Orchester Nr. 1 C-Dur

Wen-Sinn Yang (Violoncello)

Accademia d’Archi Bozen

Georg Egger (Leitung) 2010

Oehms Classics

Nicht schon wieder – ich komme gerade vom Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau, da wurde das Konzert acht mal geboten. Aber nein, lassen Sie es laufen. Haydn ist mein Lieblingskomponist. Er war ein unglaublich erfinderischer Geist, in jedem Takt kann etwas passieren. Witz, Feuer, Betrug, aber auch Erhabenheit, Schönheit des Moments. Auch Haydn muss man mit Emotion spielen, auch Haydn hat vom Leben geschöpft, der Beginn des zweiten Satzes ist Emotion pur. Was mir hier auffällt: Der Cellist versucht, das Moderato zu verwirklichen, er spielt das Legato intim und gesanglich aus und zeigt dabei die Majestät der Musik, das ist überzeugend. Im zweiten Thema hat er ein schönes Piano genommen. Ein Problem würde dann entstehen, wenn die Spannung nachlassen würde. Es hängt vom Spieler ab, dass er in jedem Takt geistreich und unerwartet bleibt. Das Orchester ist schwächer. Der Cellist setzt wieder ein, und plötzlich ist alles erfüllt. Das ist leider oft so. Das ist Wen-Sinn Yang? Er kann unglaublich schnell spielen. Aber er tut es hier ganz bewusst nicht. Man hört ganz deutlich, dass er das realisiert, was er sich vorgenommen hat. Das ist für mich ganz wichtig.

CD-Tipp

Termine

Freitag, 24.05.2024 19:00 Uhr Kirche Rellingen

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