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Opern-Kritik: Oper Köln – LUCIA DI LAMMERMOOR

Belcanto-Blindflug

(Köln, 12.6.2016) Eine großartige Rollendebütantin triumphiert bei Donizetti über eine allzu ambitionierte Regisseurin

vonAndreas Falentin,

Regisseure, zumal in Deutschland, haben schon fast traditionell so ihre Schwierigkeiten mit der Belcanto-Oper. Die so radikale wie intensive Darstellung menschlicher Leidenschaft durch schönstmögliche Musikalisierung erscheint ihnen als zu kleiner, zu subjektiver Ausschnitt einer zu erzählenden Geschichte. Persönliche, politische und historische Umstände und Motivationen scheinen geradezu schmerzhaft zu fehlen. Ein beliebtes Mittel, um dem entgegenzuwirken, das auch Eva-Maria Höckmayr jetzt in Köln verwendet, ist der Transfer in eine andere, möglichst bekannte und brisante historische Epoche. Die Regisseurin lässt Lucia di Lammermoor in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs beginnen und in der Nachkriegszeit enden. Die Ashtons sollen eine reiche Nazi-Familie, die entrechteten Ravenswoods vermutlich Juden darstellen.

Enrico und Lucia wird ein inzestuöses Verhältnis angedichtet

Dass die Männer dann auf der Hochzeitsgesellschaft farbige Anzüge tragen, was in Nachkriegsdeutschland kaum denkbar war, nimmt man ebenso hin wie den merkwürdigen Hang zum dekorativen Flanieren in der Personen- und Chorführung. Schließlich sind wir in der Oper und nicht im Doku-Drama. Schon schwerer zu ertragen ist ein Hang zur überdeutlichen Darstellung der Handlungsmotive, vor allem durch ständig ausgerechnet im Schlafzimmer auftauchende, auf die Familiengeschichten verweisende Statisten. Als Hauptproblem der Inszenierung erweist sich jedoch, dass Enrico und Lucia, offensichtlich von Lucchino Viscontis Film Die Verdammten inspiriert, ein inzestuöses Verhältnis angedichtet wird, was dazu führt, dass Enrico statt seiner Schwester in der Brautnacht zum Mörder wird (aus Eifersucht) und Lucia den in ihr latent angelegten Wahnsinn nur spielt, was Raimondo und Alisa beide wissen. Den anschließenden Doppelselbstmord braucht es gar nicht mehr, um sämtliche angesprochenen Figuren gültig zu denunzieren – und dem Zuschauer jedes Mitgefühl unmöglich zu machen.

Die Wahnsinnsarie in Originalinstrumentierung – mit den unwirklichen Klängen der Glasharmonika

Im Gegensatz zu den Regisseuren liebt das Publikum die Belcanto-Oper, mutmaßlich sogar aus denselben Gründen, vor allem aber wegen der unglaublich schönen Musik. In dieser Hinsicht erwies sich die Kölner Aufführung durchaus als ambitioniert, wurden doch einige sonst stets gemachte Striche geöffnet. Raimondos Arie oder das markante Rezitativ nach der Wahnsinnsarie bekommt man sonst eher selten zu hören. Die Arie selbst wurde in Originalinstrumentierung dargeboten, das heißt zu den unwirklichen Klängen der Glasharmonika. Und die Rollendebütantin Olessya Golovneva machte das weltberühmte Zugstück gemeinsam mit dem Musiker Sascha Reckert zu einem Höhepunkt des Abends. Hier stimmte alles, da strömte die Stimme fragil und klar und hätte in einem anderen Umfeld die Herzen rühren können. Zu Anfang hatte Golovneva wie alle Sänger mit den schwierigen akustischen Bedingungen im Staatenhaus zu kämpfen.

Vokale Glanzlichter in den kleineren Partien

Das von der berühmten „Villa Tugendhat“ in Brünn inspirierte Bühnenbild von Christian Schmidt füllt die komplette Höhe des Raumes aus, so dass das Orchester auf die Seite ausweichen musste und Dirigent und Interpreten weder optisch noch akustisch in Kontakt treten konnten, ein Blindflug, der zu etlichen Intonationstrübungen und dynamischen Ungleichgewichten in den Ensembles führte. Dennoch sorgten Judith Thielsen (Alisa) und Henning von Schulman (Raimondo) für kleinere musikalische Glanzlichter. Atella Ayan präsentierte als darstellerisch eher wenig geforderter Edgardo wundervolles Tenormaterial, dem er etwas öfter leise Töne entlocken dürfte, was er zu Beginn seiner letzten Arie in bezaubernder Weise tat. Boaz Daniel hingegen blieb dem Enrico außer Lautstärke so ziemlich alles schuldig. Gesang und Darstellung fehlte es an Eleganz, Energie und Glaubwürdigkeit. Das Gürzenich-Orchester und die Gastdirigentin Eun Sin Kim haben in den Proben hörbar nicht richtig zusammen gefunden. Schön leuchtenden Einzelheiten stehen zu viele breiige, fast grummelnde Passagen gegenüber. Belcanto bleibt schwierig an deutschen Opernhäusern!

Oper Köln

Donizetti: Lucia di Lammermoor

Eun Sun Kim (Leitung), Eva-Maria Höckmayr (Regie), Christian Schmidt (Bühne), Saskia Rettig (Kostüme), Sierd Quarré (Chor), Olessya Golovneva, Atella Ayan, Boaz Daniel, Henning von Schulman, Taejun Sun, Judith Thielsen, Ralf Rachbauer, Sascha Reckert (Glasharmonika), Chor der Oper Köln, Gürzenich-Orchester Köln

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