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Opern-Kritik: Theater Erfurt – Die Meistersinger von Nürnberg

Entfesseltes Körperspiel

(Erfurt, 29.5.2016) Vera Nemirova nimmt mit dem alten Nürnberg den aktuellen Wandel urbaner Gesellschaften ins Visier

vonRoland H. Dippel,

Kurz vor den ersten Realmaßnahmen folgend dem Konzeptionspapier „Perspektive 2025“ des Thüringer Kulturministers Hoff hat diese große Koproduktion in Erfurt auch eine politische Dimension. Was ist, wenn die Vielzahl kultureller Punkte Thüringers zu vorerst größeren Flecken zusammengezogen und später weiter minimiert werden? Für Richard Wagners musikdramatische Darstellung von Kulturerhalt, Kulturauftrag und Kulturanspruch sitzen das Philharmonische Orchester Erfurt und die Thüringen Philharmonie Gotha im Graben des Theaters Erfurt, die Opernchöre aus Erfurt und Weimar stehen vereint auf der Bühne. Angesichts der Überlegung, in Weimar – einem Ort mit weltweit anerkannter kultureller Alleinstellung – die Musiktheater-Sparte mittelfristig abzubauen, muss man diese Produktion als Prüfstein des künstlerischen Potentials in der Thüringer Hauptstadt betrachten. Um es gleich zu sagen: Musikalisch hat das allenfalls punktuell den begehrten Glanz, auch das szenische Flair ist wenig beseligend. Schon jetzt sei ein Vorstellungsbesuch ab 5. November 2016 im Deutschen Nationaltheater empfohlen, dort spielt dann die Staatskapelle Weimar.

 

Reelles Deutschland-Bild

 

Es ist ein Kunstgriff der Inszenierung, dass Tom Musch den Bühnenraum in der Nachkriegszeit verortet, Marie-Thérèse Jossens Kostüme und Vera Nemirovas Regie sich aber an aktuellen Strategien für die nahe Zukunft inspirieren. Nürnberg steht hier für Megaevents, bei denen die Wonneglocken für amüsierte Massen klingen und die Kassen des Citymanagements klingeln. Auf der Bühne geht es stellenweise zu wie auf den überall begehrten Retro-Oktoberfesten. Diese Meistersinger blicken zurück in die gute alte Nachkriegszeit und nach vorn in die entwickelte Nachwende-Gesellschaft. Erfurt präsentiert in seinem Theater ein Deutschland-Bild mit Zacken und Zähnen. In diesem Sinne ist das Panorama mit Deutungsgriffen nach der dialektischen Aufklärungskiste der 68er Jahre und Anmerkungen zu permissiven Dirndlpartys voll gelungen. Möglicherweise war es konzeptionelle Absicht, dass das Suchtpotential der Musik sogar bei den Flieder- und Wahn-Entrückungen im Rahmen szenestützender Begleitung bleibt.

 

Ein Hans Sachs wie Herbert von Karajan

 

Im Vorspiel machen erst intime Klangmomente aufhorchen. Die junge Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz hat – so scheint es – keine Scheu vor einem eher sanften Zugriff auf Wagners Partitur. Bei den polyphonen Stellen wackelt es ein bisschen, da haben die beiden Orchester noch nicht ganz die ersehnte homogene Allianz erreicht. Im sonst so packenden Kampf um den Sängerpreis und die Tochter aus reicher Familie erfahren später die himmlischen Längen der Schusterstube eine Versachlichung, die nur im Rahmen dieser Inszenierung stimmig sein kann. Oder bewirkt der Bühnenraum diesen Eindruck von Nüchternheit? Die Schusterstube ist ein leerer Orchesterprobensaal. Hans Sachs posiert darin im legeren Schwarz mit dem Edelpulli über den Schultern wie dereinst Herbert von Karajan, der Salzburger Klassikmillionär vom Wohlstandsgipfel. Frank von Hove geht den Schuhmacher und Poet mit Gleichmaß an, gibt Power vor allem dann, wenn ihm Evchen mit Macht an Herz und Sinnen rührt und bleibt meist glatt in den Momenten, wo er ganz Kulturpädagoge ist.

 

Mit Witz verkehrte Positionen

 

Eigentlich kann man „Evchen“ Pogner in diesem Umfeld nur bedauern. Durch die internationale Besetzung tun sich da neue Perspektiven und Einsichten auf. Ihr Vater ist mit Migrantenhintergrund und Finanzkraft angekommen in der Stadtgesellschaft, die ihre Traditionen mit Willkommenskultur pflegt. Man ist auf Höhe der Zeit: LehrMÄDCHEN und LehrBUBEN bereiten die Meistersinger-Versammlung vor. Und eine bunte Herrenriege der Businesskaste trifft sich da. Dieses Meeting ist Multitasking mit Entertainment: Feierabendsport, Wirtschaftsjuniorentreffen und Gesangsverein. Vazgen Gazaryan als sehr junger Pogner schießt mit vokalem und persönlichem Attraktivitätspotential voll ins Schwarze. Er will um jeden Preis mit seinem Vermögen und seiner Tochter in der Community reüssieren. Beckmesser, ein vom Sozialengagement etwas angemüdeter Lehrertyp, und Junker Stolzing, ein Easy-Rider-Softie mit Gebrauchsspuren, pflegen aussterbende und längst anachronistische Lebensstile. Evchen ist, wie sie bei Vera Nemirova Irritationen bewältigt, die Lebensmeisterin im Kreis der Meistersinger, die Einzige mit Mut im offen durchlittenen Dilemma. Ilia Papandreou macht sie zur Hauptfigur.

 

Nach dem Kleidertausch mit der ordinären, durch Fun manipulierbaren Magdalene bricht aus der allseits freundlichen Tochter Begehren und Persönlichkeit: Während Sachs und Beckmesser fachsimpeln, gewährt Eva ihrem Stolzing einen heftigen Liebesakt. Ihr intensives Hin und Her ist Mittelpunkt dieser Produktion, auch weil Ilia Papandreou eindrucksvoll und immer glaubhaft die Farben eines deutschen Mädchensoprans aus dem Kern einer starken Spinto-Stimme generiert.

 

Die Männer um sie lassen sich in noble Blässe fallen, weil orchestrale Befeuerungen ausbleiben. Heiko Börner als Stolzing akzentuiert das Liedhafte, die Heißspornigkeit bleibt Behauptung. Bjørn Waag darf als Beckmesser immerhin zeigen, wie ihm der Gaul durchgeht. Auf der Festwiese reißt er sein Hemd vom Leib und stürzt sich auf Evchen, die ihm ohne Pogners Dazwischentreten nicht entgehen würde. In Verkehrung der Positionen ist Beckmesser ein Schlagersänger mit Elektro-Equipment, der seine Avantgardismen zum Leidwesen des Klassikgurus Sachs abröhrt. Auf der Festwiese kommt der sympathisch und bemüht lockere Stolzing dann doch besser an.

 

Eventpöpel vor Nachkriegsfassaden

 

Das kann nicht verwundern. In internationaler Wiesn-Montur tobt der alkoholisierte und aufgegeilte Eventpöbel vor trögen Nachkriegsfassaden. Magdalene ist da mitten drin im Gewühl. Stephanie Müther singt das lebens- und liebeslustig prall. Ihr Griff zum Streber David ist mittelfristig wohl eher ein Missgriff. Gegensätze ziehen sich an: Jörn Eichler zeigt mit Pedanterie in der Diktion einschmeichelnden Tenorschmelz. Die Prügelfuge mutiert wie ein Blitzschlag von der kippenden Straßenparty zum fiesen Gewaltausbruch mit Flammen auf den Mauern. Damit ist alles drin, was in diese „Oper über Deutschland“ an aktuellen Einsichten hineinpasst. Gemeint sind wir: Zur Festwiese schmettern die Bläser vom Rang, die Massen ziehen durch das Parkett und schauen aus wie die Populationen zwischen Leipzig und Kassel. Der Zusammenwurf der Opernchöre beider Theater beflügelt und fordert diese heraus zum Wetteifern. Chöre und Meistersinger machen sich betont engagiert ans Werk, das erfreut sehr.

 

Am Ende wird gejubelt. Trotzdem gibt das Ganze ein etwas trauriges Bild von Richard Wagners Oper über Kunst, Leben und Volk. Traurig, weil die Erfurter Ausgabe dieser thüringischen Leistungsschau der wahrnehmbaren Realität so nahe kommt. Etappenschritte heutiger Entwicklung sind gewitzt beobachtet. Bestätigend dafür zwei Details zum Schluss: Der stimmschöne Nachtwächter Sebastian Campione ist hier ein Nomade neben dem Mainstream, der die Zeichen der Stunde nicht bemerkt. Und damit ein alternativer Lebensentwurf zu den multikulturellen Meistersingern, die Zukunftsfähigkeit vor allem durch massenhaftes Verteilen ihrer Autogrammkarten markieren wollen.

 

Theater Erfurt

Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

 

Joana Mallwitz (Leitung), Vera Nemirova/Sonja Nemirova (Regie), Tom Musch (Bühne), Maria-Thérèse Jossen (Kostüme), Torsten Bante (Licht), Andreas Ketelhut, Markus Oppeneiger (Chöre), Bahadir Hamdemir (Video), Ilia Papandreou, Frank van Hove, Heiko Börner, Bjørn Waag, Vazgan Ghazaryan, Jörn Eichler, Stéphanie Müther, Sebastian Campione, Alik Abdukayumov, Philharmonisches Orchester Erfurt, Thüringen Philharmonie Gotha, Opernchor des Theaters Erfurt und Opernchor des Deutschen Nationaltheaters Weimars

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