Zu den seltenen Mysterien des Musiktheaters und zugleich zu seinen größten Glücksfällen gehört es, wenn die maximale Verdichtung auf das Wesentliche gelingt. Wenn die Reduktion der Mittel zu einer Maximierung des Gehalts einer Geschichte und der Fokussierung ihrer Figuren führt. Zu den Meistern dieser Magie gehörte Peter Brook. Er setzte die Devise des „Weniger ist Mehr“ nicht nur auf der Bühne um, er reflektierte sie in seinem Buch „Der leere Raum“, in dem er seine Vorlesungen an diversen Universitäten zusammenfasste. In diesem Klassiker der Theaterliteratur unterscheidet der Engländer das konventionelle (es sei „tödlich“), das an Ritualen festhaltende (das „heilige“) und das volksnahe Theater (das „derbe“), um ihm das von ihm bevorzugte Theater entgegenzusetzen: Er nennt es das „unmittelbare Theater“.
Brook, der in Film, Theater und leider nur selten im Musiktheater (seine Version von „Die Zauberflöte“ bleibt dafür legendär) wirkte, scheint einen Bruder im Geiste in den Gefilden des Balletts zu haben: Johan Inger. Die vertanzte Version von Bizets Opern-Evergreen „Carmen“, die der Schwede im Auftrag der Compañía Nacional de Danza im Jahr 2015 in Madrid zur Uraufführung brachte, ist nun in der Einstudierung der Compagnie des Aalto Ballett Essen zu erleben – und wurde nur Sekunden nach dem letzten Ton der Premiere im Aalto Musiktheater mit Standing Ovations bedacht.
Carmen, die erotisch selbstbestimmte Jederfrau
Der nordische Starchoreograf verdichtet das Schicksal der Femme fatale Carmen und des ihr verfallenen jungen Soldaten José zunächst durch die Kunst des Verzichts: Es gibt bei ihm keine Spanienklischees und keine Klischees des klassischen Balletts. Spitzentanz? Nein, danke. Weit mehr ist sein integrativer Stil dem zeitgenössischen Tanztheater verpflichtet, das dank der ausdrucksstarken Compagnie des Aalto Ballett Essen freilich nie ins Sportive oder Beliebige abdriftet. Es mag für Sekunden Einsprengsel des Tangos geben, doch folkloristisch wird es nie. Dafür gerät jede Bewegung wahrhaftig, stilisierend, ernsthaft, auf den psychologischen Kern der Figuren hinzielend.
Seine Carmen tanzt die Japanerin Yuki Kishimoto mit unprätentiöser Schlichtheit fast wie eine attraktive junge, selbstbestimmte Jederfrau: meist im Kollektiv mit acht gleichgewandeten Damen der Compagnie. In der Gruppe ihrer Gleichgesinnten ist Carmen nur durch die rote Farbe ihres Kostüms abgesetzt. In seiner absoluten, ja krankhaften Obsession für die junge Löwin, die sich bloß nicht zur braven Katze domestizieren lassen will, ist José (Wataru Shimizu) indes allein. Die Tragik des blind Liebenden gelangt so immer mehr in den Fokus des Abends.
In diesem eigentlich weichen, introvertierten Mann lodert die Leidenschaft, die genau dann ins Extrem umschlägt, wenn er seine Liebe in Gefahr sieht. Nach der schnellen Sexnummer, die Carmen mit Josés Soldatenkamerad Zuniga hat, zieht der Gedemütigte die Waffe und streckt den Nebenbuhler nieder. Am Ende sticht er die geliebte Frau im Affekt mit dem Messer ab, er wird zum Mörder.
„Ich liebe Dich für immer, heute Nacht“
Von dieser Tragik erzählt Johan Inger erschütternd unmittelbar, ohne Umschweife, absolut authentisch, gerade so, wie es ein Peter Brook einst vermochte. Dabei traut der schwedische Choreograf den Augenblicken wahrhaftiger Liebe, die Carmen und José zumal in der Musik zur Blumenarie verbindet – getreu der französischen (und womöglich auch spanischen) Maxime in Liebesdingen: „Je t’aime toujours, ce soir“. Da ist für Momente dieser Gleichklang, diese Innigkeit, dieser Ruhepol. Doch beide, Carmen und José, bleiben Getriebene ihrer Gefühle. Oftmals rennt José. Und Carmen stürzt sich mal wieder in die Arme eines anderen, zumal des Torero Escamillo, dieses glamourösen Narzisten (der virile William Emilio Castro Hechavarría).
José aber steht nur eine einzige Person dauerhaft zur Seite: ein Kind (die junge Tänzerin Sena Shirae), das zu Beginn mit einem Ball spielt, beobachtet und begleitet das Geschehen, reift heran vom unfreiwilligen Unschuldswesen und muss dann doch das bittere Wissen um die Fatalität der Liebe erfahren. Schwarz schattenhafte Schicksalsgestalten stehen für Letztere. Diese „Carmen“-Verdichtung wirkt nie plump modern, sie zielt ins Archetypische der fokussierten Figurenkonstellation, aus der die Carmen kontrastierende Femme fragile Micaëla gänzlich verschwunden ist.
Verdichtung erfährt auch die Partitur von Georges Bizet, die in Verknappung und sanfter Verfremdung erklingt, in den Modernisierungen des Komponisten Rodion Schtschedrin und mitunter auch nur geräuschhaften Ergänzungen des Spaniers Marc Álvarez. Thomas Herzog leitet die Essener Philharmoniker in den ihnen verbliebenen Musiknummern mit dem Tanz dienender, wohlklingender Umsicht.
Aalto Ballett Essen
Inger: Carmen
Thomas Herzog (Leitung), Johan Inger (Choreografie), Curt Wilmer & Leticia Gañán Calvo (Bühne), David Delfín (Kostüme), Tom Visser (Licht), Gregor Acuña-Pohl & Laura Bruckner (Dramaturgie), Yuki Kishimoto, Wataru Shimizu, Davit Bassénz, Sena Shirae, William Emilio Castro Hechavarría, Julia Schalitz, Compagnie des Aalto Ballett Essen, Essener Philharmoniker
Fr, 08. November 2024 19:30 Uhr
Tanztheater
Carmen
Johan Inger (Choreografie)
Mi, 27. November 2024 19:30 Uhr
Tanztheater
Carmen
Johan Inger (Choreografie)
Do, 28. November 2024 19:30 Uhr
Tanztheater
Carmen
Johan Inger (Choreografie)
Sa, 01. März 2025 19:00 Uhr
Tanztheater
Carmen
Johan Inger (Choreografie)
Fr, 14. März 2025 19:30 Uhr
Tanztheater
Carmen
Johan Inger (Choreografie)