Kerzengerade und gertenschlank streben sie himmelwärts: die Fichten im majestätischen Mischwald über Bregenz, der vom Hausberg des Pfänders minutenschnell mit der Bergbahn oder aber nach einer anderthalbstündigen, bestens beschilderten Wanderung erreichbar ist. Das Naturidyll, das nach einem Regentag in besonders strahlendem und herrlich duftendem Grün zu bestaunen ist und den Weitblick über den Bodensee wie in Richtung Alpen öffnet, muss auch Andreas Kriegenburg in der Konzeptionsphase seiner Inszenierung von George Enescus „Œdipe“ gemeinsam mit seinem Bühnenbilder Harald B. Thor besucht haben.
Denn es sind just diese hochgewachsenen Baumstämme, die in jedem der vier Akte der Oper gleichsam in einem anderen Aggregatzustand die Bühne zieren. So verbindet die Eröffnungspremiere der Bregenzer Festspiele das arkadisch antike Griechenland der Handlung geradewegs mit dem Ambiente des Ortes, an dem die Inszenierung nun zu erleben ist. Eine schöne Verbeugung vor Vorarlberg, diesem touristisch so bedeutsamen Flecken Österreich, das Bodensee, Bergwelt, herausgeputzte Städtchen und Vorzeigedörfer nachgerade ideal verbindet.
Und eine ästhetische Entscheidung, die nebenher beachtliche opernpraktische Vorzüge bietet: Denn eine Bühne aus Holz hilft eben dem sängerischen Ensemble gar sehr, sich gegen das in diesem Falle sehr wohl riesig besetzte Orchester der Wiener Symphoniker mühelos durchzusetzen.

Archetypische Konstellationen
Im ersten Akt – wir befinden uns im Palast von König Laios und Königin Jocaste – feiert ganz Theben die Geburt des Prinzen Œdipe. Die Eltern herzen das Neugeborene, Hirtenchöre und tanzende Damen preisen das Glück. Das in Rottöne getauchte Holz als Bild des Feuers in diesem sanft rauschenden Beginn suggeriert vollkommene Harmonie: Die Imagination einer archetypischen Konstellation, betrachtet im Lichte der Gegenwart, ist perfekt.
Doch Seher Tirésias (mit Bassmacht: Ante Jerkunica) verheißt Schreckliches: Das Kind werde seinen Vater töten und die eigene Mutter zur Frau nehmen. König Laios kann seine Angst nur mit einer brutalen Entscheidung überwinden: Sein Sohn wird der Mutter entrissen, ausgesetzt und dem Tod preisgegeben.

Einfach dem Erzählton und -strom der Musik folgen
Wo die Moden des Regietheaters jedoch die realistische Krassheit und blutrünstige Zuspitzung nebst zwingender Aktualisierung suchen würden, bleibt Kriegenburg demütig und lauscht der Musik. Sein Verständnis von Musiktheater scheint an diesem Abend zu sein: dem Erzählton und -strom der Musik zu folgen, ihm sensibel nachzuspüren und dabei zu ergründen. Und so wird denn auch sogleich mehr als deutlich, welche fein ziselierte Partitur Enescu hier in der langen Entstehungszeit von 1910 bis 1931 geschaffen hat. All die zarten Zwischentöne werden exquisit ausgehört und mit einer schwelgerischen Sogkraft verbunden.
Hannu Lintu schafft am Pult der glänzend disponierten Wiener Symphoniker etwas Erstaunliches: Die penibel ausgearbeitete Detailfreude der kleinen Motive in den großen Spannungsfluss einzubinden. So amalgamieren Dirigent und Orchester die Pole der Partitur zwischen den feinen Farbwerten eines Claude Debussy und der unendlichen Melodie eines Richard Wagner so, als wären diese eben gar kein Widerspruch. Und das Ureigene Enescus, der seine rumänische Prägung auch in Paris (wo „Œdipe“ anno 1936 seine Uraufführung in der Opéra Garnier feierte) natürlich nie aufgab, wird ebenso selbstverständlich greifbar.

Das Schicksal erfüllt sich
Spätestens im zweiten Akt – Œdipe hat überlebt und wächst in der liebevollen Obhut von König Polybos und Königin Mérope (Tone Kummervold als mütterlich sorgendes Mezzo-Ereignis) in Korinth auf – wird deutlich: Nicht die sich zurücknehmende behutsame Regie spielt sich hier in den Vordergrund, sondern das Stück selbst ist der Star. Die hier nun weiß-graue Holzwand suggeriert das Element des Wassers. Als das Gerücht die Runde macht, Œdipe sei von anderer Abstammung und werde einst den Vater töten und die Mutter ehelichen, verlässt die Titelfigur das vermeintliche Elternhaus, um dem furchtbaren Schicksal zu entgehen.
Nebelschwaden wabern nun über die Bühne, und Œdipe, ein einsamer Wanderer wie in Wagners “Siegfried”, tötet die drei Männer im Affekt, die ihn vom Weg abbringen wollen: einer von ihnen ist sein wahrer Vater Laios. Das Schicksal erfüllt sich. Doch Œdipe wird als unbekannter Held gefeiert, als er nach Theben zurückkehrt. Denn er tötet hier die verführerisch-verlockend-verzehrende Sphinx (Anna Danik), die die Stadt bedroht, weil er deren Rätsel zu lösen weiß. Sie will wissen, was denn stärker sei als das Schicksal. Er antwortet korrekt: „der Mensch”.

Die Selbsterkenntnis eines seherischen Blinden
Doch die griechische Tragödie nimmt zwingend ihren Lauf: “Asche” heißt bei Kriegenburg das Element des dritten Aktes. Die Pest hat Theben ergriffen, in statischer Archaik beweint das Volk seine Toten. Es naht der Moment der brutalen Selbsterkenntnis des Œdipe, der nun die Prophezeiung des Orakels versteht, die durch die Tötung seines Vaters längst erfüllt ist. Und Œdipe blendet sich selbst, wird zum blinden Seher seiner eigenen Schuld.
Hier könnte das Stück enden, Hans Neuenfels entschied sich in seiner Frankfurter Inszenierung genau so. Doch George Enescu gönnt seiner Titelfigur die Erlösung. Wagners “Parsifal” wird gleichsam als Korrektur antiker Schicksalsmacht an die Handlung angehängt. Und die Baum-Metaphorik der Inszenierung führt zur apotheotischen Überhöhung in diesem Schlussakt, der mit Martin Luther von der Hoffnung weiß – im Angesicht des Untergangs der Welt wollte der noch ein Apfelbäumchen pflanzen.

In einer Waldeslichtung mit einsamer Quelle findet Œdipe Frieden – und die hoch moderne Frage nach dem freien Willen im Angesichts des Schicksals scheint gelöst. Paul Gay läuft in seiner Marathonpartie zu Hochform auf. Der französische Bass-Bariton braucht keine protzenden Töne, um die ergreifende Vielschichtigkeit des Œdipe sängerdarstellerisch greifbar zu machen. Zwischen Aufbegehren und Resignation lotet er scheinbar ganz einfach und natürlich alle Schattierungen und Zwischentöne des wahren, abgründigen Menschseins aus.
Bregenzer Festspiele
Enescu: Œdipe
Hannu Lintu (Leitung), Andreas Kriegenburg (Regie), Harald B. Thor (Bühne), Tanja Hofmann (Kostüme), Andreas Grüter (Licht), Florian Amort (Dramaturgie), Paul Gay, Ante Jerkunica, Tuomas Pursio, Mihails Čuļpajevs, Nika Guliashvili, Vazgen Gazaryan, Nikita Ivasechko, Michael Heim, Marina Prudenskaya, Anna Danik, Iris Candelaria, Tone Kummervold, Prager Philharmonischer Chor, Wiener Symphoniker
So., 20. Juli 2025 11:00 Uhr
Musiktheater
Enescu: Œdipe
Bregenzer Festspiele
Mo., 28. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Enescu: Œdipe
Bregenzer Festspiele