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Opern-Kritik: Deutsches Nationaltheater Weimar – missing in cantu

Sag‘ zum Abschied leise „Ciao!“

(Weimar, 2.9.2023) Beim Kunstfest Weimar kommt im Deutschen Nationaltheater Johannes Maria Stauds neues Musiktheater „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ zur Uraufführung.

vonRoland H. Dippel,

Beim Deutschen Nationaltheater und beim Kunstfest Weimar konnte man in den letzten Jahren drei Hauptstränge des neuen Musiktheaters verfolgen. Zum einen Kammeropern seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Festival Passion:SPIEL bis zum Straßenopernprojekt im 15-Minuten-Takt zum Corona-Kunstfest 2020. Mit Ludger Vollmers „The Circle“ nach Dave Eggers, einer dystopischen Literaturoper, und Stewart Copelands biografischer Apologie „Electric Saint“, die satte Musik nach gängigen dramaturgischen Mustern enthielten. Drittens und zukunftsorientiert bildet sich der wohl bemerkenswerteste Strang heraus, begonnen 2022 mit Jörn Arrneckes und Falk Richters „Welcome to Paradise Lost“: Die Uraufführung von Johannes Maria Stauds und Thomas Köcks „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ als von der Ernst-vom-Siemens-Stiftung geförderter Kompositionsauftrag erweist sich als Musiktheater-Hybrid mit viel Technik, sprunghaften Parallelepisoden und vor allem dem Sich-Abfinden damit, dass unsere Welt nicht mehr zu retten ist.

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Erfolgreich in Sprech- und Musiktheater

Als Schauspiel erlebte Köcks Text unter dem Titel „eure paläste sind leer (all we ever wanted). eine missa in cantu“ an den Münchner Kammerspielen 2021 seine erfolgreiche Uraufführung. Keine zwei Jahre vergingen also bis zur Uraufführung des Musiktheaters von Johannes Maria Staud. Kunstfest-Leiter Rolf C. Hemke kündigt bereits die nächste Zusammenarbeit mit Köck an.

„Ciao!“ ist das letzte Wort in Köcks vom Schauspiel zum Libretto gewordenen Text. Und auch dieser ist ein Paradox. Denn weitaus aufschlussreicher als die Handlung auf drei Ebenen ist der Weg zu der mit langem, nicht besonders dichtem Premierenjubel bedankten Uraufführung. Auf dem Amazonas sucht eine spanische Expedition unter dem Konquistador Don Gairre (Alexander Günther) nach dem legendären El Dorado. Die Mannschaft ist erschöpft und demoralisiert. Der kastilische Gesandte Don Stepano (Oleksandr Pushniak) wird entmachtet und der Missionar Don Miguel (André Matos Rabello) zum König von Eldorado ernannt. Im Regenwald kommt es zu einem Terrorregime und der peinlichen Befragung einer als Hexe angeklagten Frau (Camila Ribero-Souza).

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Die zweite Ebene zeigt die drohende gesellschaftliche Zersetzung in den USA der Gegenwart durch den in der Mitte der Gesellschaft angekommenen Missbrauch von Beruhigungsmitteln mit massiv erhöhten Sterbezahlen. In einer visionären nahen Zukunft blickt ein Seher auf den globalen Niedergang und fragt mit seiner Gefährtin Echo (Emma Moore) danach, ob durch Partizipation, Mitdenken und persönliches Engagement etwas zum Bessern hätte gewendet werden können. Das war’s: „Ciao!“

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Farce über das Aufplustern der westlichen Welt

Nicht nur das von Otto Katzameier in der Partie des Sehers mit einem saloppen Winken ins Auditorium mit Winken genüsslich ausgekostete Schlusswort zeigt Köcks flapsige und natürlich human gedachte Haltung. Mit schon lustvoller Aktionsfülle zeigt Andrea Moses Auswirkungen des Expansions- und Wachstumsstrebens im tödlich endenden Drogenkonsum und Ausgrenzungen. Höhepunkt dieser Farce über die westliche Welt am Abgrund ist eine Szene im Schlachthaus unter gehäuteten Rindern am Haken, während der das gesamte Fleischindustrie-Personal in weißen Kitteln durch Überdosen an Opiaten krepiert.

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Köcks Text ist ein unmerkliches Erdbeben, das die Risse in den ideologischen Mauern vergrößert und vieles wanken lässt – den Glauben an das Gute vor allem. Garniert ist das Ganze mit slapstickhaft verkürzten und gepfeffert ausagierten Szenen. Zum Höhepunkt zwei gerät die Szene, wenn eine Investigativ-Journalistin eine Hausbesitzerin unter Drogen (Astrid Meyerfeldt) ausforschen will und von dieser mit Schusswaffe beballert wird.

Zwischen historischem Abenteuer, Krimi und Space Opera

„missing in cantu“! Man vermisst nicht nur den Gesang an vielen Stellen des Werkganzen, sondern auch die Empathie. Einigermaßen entschädigt für die miesen Zukunftsaussichten wird man durch das phänomenale Bühnenbild von Raimund Bauer. Der Palast des Sehers – das Eldorado? – ist ein Goldquader auf drehender Schräge, in dem tropische Pflanzen hinter Glas vor sich hindörren. Historisches Abenteuer, Krimi mit trister Doku, Space Opera – die Kunstfest-Resignation ist grell und bunt. Sag‘ zum Abschied leise „Ciao!“

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Text und Szene sind stärker als die Musik

Bei der Einführung sprach Johannes Maria Staud davon, dass er ständig um eine Tonsprache in Entsprechung oder Rebellion zum Text positionieren musste. Zudem mustert er das Rezitativ als Informationsträger für das Musiktheater der Gegenwart als überlebt. In Konsequenz bleiben weite Teile des Textes unvertont und lange Dialogszenen machen vergessen, dass es sich um Musiktheater handelt. Der Seher fällt schließlich doch in eine fast schamhaft mit Sprechtext durchbrochene Deklamationsmusik großen Stils. Aber den Kern der Partitur bilden Zitat-Flächen und elektronische Emanationen. Erstaunlich die Leistung des SWR Experimentalstudios, dessen Klänge und Effekte, die akustisch durch den Zuschauerraum wandern, leisten. Sarah Mehnert gibt eine Bilderbuchreporterin alter Schule, Jörn Eichler ist eine starke Ensemble-Säule an mehreren Rollenschauplätzen. Andreas Wolf am Pult hat alles im Griff, die Staatskapelle Weimar wirkt durch mehrere Soli zwar stark beschäftigt, in der Fülle des elektronischen Wohllauts allerdings etwas unterrepräsentiert.

Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Musik wie Efeu auf Glas

Musiktheater also auf Höhe der Zeit. Ein post-postmoderner Materialsalat, bei dem die Musik gegen Köcks Text keine Andockfläche findet. Musik ist hier wie Efeu auf Glas, der sich verbreitet und dessen Wurzelkrallen nur selten Halt finden, dass sie länger haften bleiben könnten. Staud illustriert, malt Ambiente, bietet vor allem für den Chor und die Fleischfabrik-Szene passgenaues Kolorit. Ganz wie Köcks finales, gesprochenes „Ciao!“ dokumentiert und spiegelt seine Musik, findet aber nicht zu einer individuellen, geschweige subjektiven Ebene. Als Konzept passt „missing in cantu“ perfekt in das Kunstfest-Motto „Erinnern schafft Zukunft“, wenn auch der Schluss mit dem Seher offenlegt, dass es keine Zukunft mehr gibt. Zumindest keine glückliche.

Deutsches Nationaltheater Weimar/Kunstfest Weimar
Staud: missing in cantu (eure paläste sind leer)

Andreas Wolf (Leitung), Andrea Moses (Regie), Raimund Bauer (Bühne), Anja Rabes (Kostüme), Michael Höppner/Simon Berger (Dramaturgie), Jörg Hammerschmidt (Licht), Andreas Günther (Who-be) (Video), SWR Experimentalstudio (Live-Elektronische Realisation), Michael Acker (Klangregie und Musikinformatik), Jens Petereit (Choreinstudierung), Otto Katzameier (Seher), Emma Moore (Echo), Alexander Günther (Don Gairre), Oleksandr Pushniak (Don Stepano), Camila Ribero-Souza (Hexe), Astrid Meyerfeldt (Drogenabhängiger Hausbesitzer/Stimme aus dem Off/Attentäter), Marlene Gaßner/Sarah Mehnert (Reporterin/Schlachthausassistentin/ Drogensüchtige/ Polizistin), Jörn Eichler (Kameramann/Drogensüchtiger/Schlachthausbesitzer/Polizist), André Matos Rabello (Don Miguel), Nathaniel Kondrat (Übersetzer), Susann Günther (3. Polizist*in), Opernchor des DNT, Staatskapelle Weimar

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