Der Start der neuen Reihe „Pop-Up-Oper“ des Deutschen Nationaltheaters Weimars ist mit „Werther“ voll gelungen. Einmal jede Spielzeit soll da ein Klassiker fokussiert und mit kreativer, das heißt, kostengünstiger Ausstattung in der Redoute herauskommen. Dahinter steckt auch echter Bedarf. Das Gebäude mit dem relativ neuen fulminanten Orchesterprobensaal wird während der bevorstehenden Sanierung des Hauptgebäudes am Theaterplatz die wichtigste Ersatzspielstätte, zumal das pittoreske E-Werk derzeit nur für die sommerliche Open Air-Zeit zur Verfügung stehen.
Das sind Rahmenbedingungen, welche angesichts der Weimarer Neuproduktion von Jules Massenets genialer Vertonung im Zeitgeist der Belle Époque eher skeptisch stimmten, aber glänzend aufgingen. In der Oper ist die Figur der Charlotte weitaus spannungsvoller als die Projektionsfigur von Werthers exaltierten Stimmungsbögen in Goethes Roman. Diese begleitete Massenet in seinem 1892 an der Wiener Hofoper uraufgeführtem lyrischen Drama mit einer der beeindruckendsten Instrumentationen seiner Zeit.
Die Redoute als neue Weimarer Opernspielstätte
Die hier in der Redoute erstmals erprobte Orchesterlösung meisterte die Herausforderungen bravourös: Die Staatskapelle Weimar saß im Orchesterprobesaal und wurde dank der kongenialen Toneinrichtung von Harms Achtergarde und Thomas Fischer brillant in den Zuschauerraum übertragen. Die bei Massenet überaus wichtigen Bläser-Soli klangen betörend und die Streicher mit schlanker wie brennender Rundung.

Ein Massenet-Genie am Pult der Staatskapelle
Der neue erste Kapellmeister Marco Alibrando ist ein Massenet-Genie. Mit der Staatskapelle hat er jedes noch so beiläufige Detail entweder penibel erarbeitet – oder er setzt auf telepathische Hyperkommunikation. Die vier Solisten in der um alle Nebenfiguren inklusive Kindergruppe und damit etwa 20 Minuten gekürzten Weimarer Einrichtung entwickeln Spannung durch den langen beruhigten, aber keineswegs ruhigen Fluss, eine enorme vokale und szenische Kraft. Ihre Stimmen entfalten sich mit exzellenter Diktion über der verführerisch expressiven Instrumentation. Alle steuern mit perfekter Artikulation und langsamen Aufschwüngen auf die wenigen echten Spitzentöne zu.
Tatsächlich erzählt diese Konzentration auf das Wesentliche weitaus mehr als der ziemlich substanzleere Überschreibungs- und selbstgefällige Worthülsen-Schnickschnack der „Heimsuchung“ von Julienne Du Muirier frei nach Goethes natürlich an intellektuellen Herausforderungen reichen „Iphigenie auf Tauris“ im Großen Haus. Einfach durch die Tugend dramaturgischer und szenischer Genauigkeit.
Poetische Dichte
Die Unterschiede von Goethes im späten 18. Jahrhundert sensationellen und in Wetzlar spielenden Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ zum von Massenet kritisch reflektierten Livret Édouard Blaus, Paul Milliets und Georges Hartmanns werden evident. Die Kinder und alle anderen klemmen hinter dem Lattenpodest, was die Seelenbühne-Fläche auch für die Leiden Charlottes an ihrer zunehmend toxischen Ehe mit dem zwanghaften Albert bildet. Philip Rubner setzt zwei Wände um den frühbürgerlich goethezeitlichen Hausstand.
Dahinter zeigen ein sommerlicher Buchenwald (!), eine trostlos graue Winterlandschaft und schließlich ein schwarzes Loch die psychischen Zerfaserungen hinter den realistischen, mit extremer Sauberkeit überhöhten Kostüme von Mara Lena Schönborn. Dorian Dreher, der mit Valentin Schwarz und Timon Jansen die neue Teamintendanz des DNT bildet, verdichtet ein mit psychologischer Akribie erarbeitetes, gesteigertes und mit kleinen Bewegungen endendes Kammerspiel.

Seelenkrimi aus Hybridmelos
Einziger subjektiver Kritikpunkt: Der knabenhaft glatte Albert gewinnt immer mehr sadistisches Format, schleppt schon zu Beginn den später für Werther tödlichen Pistolenkoffer mit sich herum. Ilya Silchuks Bariton klingt auch in den beiden großen Ariosi so weiß, dass die Blässlichkeit des Biedermanns für alle Projektionsflächen offen ist.
Charlottes jüngere und in Werther ihr erstes, freilich nur halb zugegebenes Liebesobjekt findende Schwester Sophie könnte ziemlich flach und langweilig werden. Hier hat die Figur durch Adèle Clermont aus dem Thüringer Opernstudio weit mehr zu bieten als Backfisch-Säuseln. Sangmin Jeon profitiert kongenial von Alibrandos hoch energetischer Haltung. Durch die Striche muss Jeon statt Massenets vorbereitenden Kuschelphrasen gleich in die tenoralen Vollgas-Regionen. Immer wieder ist Werther hier von den anderen isoliert.
Musikalische Feinheitsoffensiven
Ekaterina Alexandrova ist eine durch tiefgründigen Seelenrumor faszinierende Charlotte und Vulkan unter dichtem Samt! Mit Bravour aufzurauschen wäre das Naheliegende, aber hier ereignet sich etwas vollkommen anderes. Mehr noch als ihre drei Kollegen greift Aleksandrova die Feinheitsoffensiven Alibrandos auf, legt bis zum Schluss nicht zu viel offenes Feuer in die Stimme und fasziniert dafür mit dunkel schwelender Glut. Das melancholische Lamento in der großen Briefszenen nehmen sie und die Staatskapelle mit fragmentierendem Langsamkeitsrekord. Am Ende lange, große Begeisterung des Premierenpublikums.
Deutsches Nationaltheater Weimar
Massenet: Werther
Marco Alibrando Leitung, Dorian Dreher (Regie), Philip Rubner (Bühne), Mara Lena Schönborn (Kostüme), Sören Sarbeck (Dramaturgie), Sangmin Jeon, Ekaterina Aleksandrova, Ilya Silchuk, Adèle Clermont, Statisterie des DNT Weimar, Staatskapelle Weimar




