Er ist der Experte einer fesselnden Fantastik, ja, der Meister der Magie. Daniele Finzi Pasca stammt aus Lugano, dem italienischen Teil der Schweiz, wurde zunächst akrobatischer Clown, entwickelte sich zum Regisseur, Autoren, Choreographen. Und entdeckt seit einigen Jahren die Oper für sich, deren In-Szene-Setzen bei ihm durchweg das komplette Gegenteil dessen ist, was sonst als Regietheater daherkommt und gemeinhin als verkopft und zwanghaft aktualisierend wahrgenommen wird und dabei in der Tat zu oft immun gegenüber der Musik ist.
Am Grand Théâtre du Genève zeigte Daniele Finzi Pasca 2019 zum Beginn der Intendanz von Aviel Cahn, wie seine so ganz andere Bühnenästhetik im Idealfall funktionieren kann: mit Philip Glass‘ „Einstein on the Beach“. An der Hamburgischen Staatsoper setzte er später Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ in Szene. Da war die Gefahr des nur mehr grandios Dekorativen dann nicht immer gebannt. Nun nahm er sich wiederum in Genf Ástor Piazzollas „María de Buonos Aires“ vor – und fand in der Tango operita womöglich exakt jenes musiktheatralische Material, das sich seinem Zugriff in nachgerade idealer Weise anschmiegt.
Fatale Passion: María, die Hure und die Heilige
Dies hat nicht einfach nur damit zu tun, dass der Tango ein höchst sinnlicher Tanz ist. Wenn sich im Tango aufgehitzt feuchte Körper aneinander reiben, ist das schließlich nicht nur höchst erotisch, dann sind auch dezidiert Begehren und Erregung mit im Spiel. Ja, dieser Tanz ist genuin sexuell. Ástor Piazzolla setzte ihm 1968 mit seinem Beitrag zum Musiktheater ein kunstmusikalisches Denkmal. Das Libretto von Horacio Ferrer erzählt dazu von einem Mädchen aus der tristen Vorstadt, das sich ins große gefährliche Buenos Aires wagt und dort unter die Räder der Halbwelt aus Prostitution und Diebstahl gerät. Ihr Name wird zum Synonym für den Tango, für die Liebe: Als „María noche, María pasión fatal, María del amor, de Buenos Aires“ stellt sie sich selbst vor.
Als wäre sie eine argentinische Seelenschwester der Carmen, sind in der Zeichnung dieser María fraglos auch Stereotypen nicht zu übersehen. Doch die Autoren meiden durchweg geschickt die plump farbenfrohe Feier des Folkloristischen, indem sie die Geschichte fern von jeder naturalistischen Zeichnung der Gosse (und damit ganz anders als Bizet in seiner „Carmen“) ins Surreale weiten und ihre Titelfigur so von der Eindimensionalität befreien: María, die Hure, wird sogar immer wieder mit Maria, der Heiligen und Mutter Gottes, in Beziehung gesetzt. Das Textbuch gibt sich in dieser Hinsicht höchst anspielungsreich in seinen diversen, zumal biblischen Bezügen.
Von der Reinheit des inneren, des ewigen Frauseins
Daniele Finzi Pasca hat mit seinem kongenialen Ausstattungsteam sehr genau verstanden, was dieses Stück ausdrücklich nicht braucht. Denn es geht hier eben nicht sozialkritisch und schmutzig zu, die Autoren lassen zwar die „Street Credibility“ der Bars und Bordelle von Buenos Aires mitschwingen, vertrauen dazu aber den Bildern, die in den Köpfen des Publikums ohnehin gespeichert sind. Sie setzten den Schmutz wie die folkloristische „colour local“ des Tangos gewissermaßen voraus, müssen all dies nicht doppeln oder gar bedienen. Und so lässt der Regisseur seine Darstellerin der María eben auch nicht das Männer verschlingende Luder einer Femme fatale spielen, sondern gibt ihr eine Reinheit zurück, die wohl eher ihrem inneren, ihrem ewigen Frausein entsprechen könnte.
Die María der Raquel Camarinha spielt diese andere, gleichsam unschuldige Seite der Titelfigur hinreißend in ihrer ganzen grazil anmutigen Erscheinung eines schönen Mädchens, das durchaus nicht zwingend aus der ärmlichen Vorstadt, sondern auch aus gutem Hause stammen könnte. Sie trägt ein strahlend hellrotes Kleid und singt mit einer im Opernfach geschulten Stimme, deren edelzarter Sopran sie in die sanft sündigen Tiefen eines Mezzo hinabbiegt, ohne dabei je in die Klangklischees von der rauchig coolen Verführerin zu geraten.
Sublimierte Sinnlichkeit
Hier gilt’s der Schönheit, ja, sehr wohl der Sinnlichkeit, aber in einer sublimierten Feinstofflichkeit. Diese entspricht so ganz der musikalischen Verwandlung, die Piazzolla bereits vornimmt: Der Tango der Straße wird vollends zur Kunstmusik, die Facundo Agudin am Pult des wohltönenden, vergleichsweise groß besetzten Orchestre de la Haute école de musique de Genève seinerseits ins Sinfonische weitet – wobei das genuine Idiom des Tanzes nie zu kurz kommt, wofür die Solisten am Bandonéon, an den Gitarren und am Klavier kenntnisreich authentisch sorgen.
Großes Zaubertheater zwischen Zirkus, Musical, Puppenspiel und Tanz
Mit einer Besetzungsbesonderheit regt das Genfer Team zudem einen Perspektivwechel in Richtung einer feministischen Interpretation an: Die Besetzung der weiteren Hauptrollen erfolgt ausschließlich mit Frauen. Der Stimme eines Payador leiht Inés Cuello ihren irisierend berührenden hohen Sopran, die Erzählerfigur des Duende teilen sich sogar die Schauspielerinnen Melissa Vettore und Beatriz Sayad. Das Verhältnis zu María wird so ganz neu akzentuiert. Sie ist nicht mehr das Opfer männlicher Projektion, sondern erfährt in den weiteren Figuren zusätzliche Aspekte ihrer Persönlichkeit. Dazu vollbringt Giovanna Buzzi in seinen Kostümen wahre Wunder der Differenzierung: In ihnen changiert das Rot von Marías Kleid in allen nur denkbaren Tönen dieser Farbe der Liebe und des Blutes. Großes Zaubertheater zwischen Zirkus, Musical, Puppenspiel und Tanz (auch auf dem Eis!) entsteht zudem nicht nur durch die Artistik der Compagnia Finzi Pasca und ihren famosen Akrobaten und Schaupielern.
Auch die wie im Filmschnitt rasant wechselnden Bühnenbilder von Hugo Gargiulo steuern den magischen Realismus von wahren Traumlandschaften bei. Der größte Coup gelingt mit dem Anfangs- und Schlussbild: eine hohe Wand von Grabkammern, aus deren Luken das Ensemble herausblicken kann, in die aber die gestorbene María auch verschwinden kann. Das Werden und Vergehen der Titelfigur, ihre Geburt und Wiedergeburt, all die Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen, die der kreisenden Zeitdramaturgie des Stücks mit all seinen Rückblenden und Visionen entsprechen, werden mit dieser Setzung unmittelbar einleuchtend. Man lässt sich in den ganz eigenen Sog der in Ohr und Beine gehenden Musik hineinziehen, gibt sich der schönheitstrunkenen ganz eigenen Wahrheit dieses Musiktheater-Hybris hin, lauscht dem Girren dieser Jederfrau-María. Ein Abend zum freudigen Staunen, den das mit vielen jungen Leuten bereicherte Publikum ausgiebig bejubelt.
Grand Théâtre de Genève
Piazzolla: María de Buenos Aires
Facundo Agudin (Leitung), Daniele Finzi Pasca (Regie & Licht), Hugo Gargiulo (Bühne), Matteo Verlicchi (Bühnenmitarbeit), Giovanna Buzzi (Kostüme), María Bonzanigo (Choregraphie), Raquel Camarinha, Inés Cuello, Melissa Vettore, Beatriz Sayad, Compagnia Finzi Pasca, Cercle Bach de Genève und Chœur de la Haute école de musique de Genève, Orchestre de la Haute école de musique de Genève complété par des solistes du tango