Ein moderner Faust-Stoff sollte es werden, und den gibt es selbstverständlich nicht in einer Halbzeit abzuspielen. Unsuk Chin benötigt dreieinhalb Stunden, um ihre Geschichte über den genialen Forscher Dr. Kieron zu erzählen, der sich hilfesuchend an den Guru Astaroth wendet und mit ihm einen unheilvollen Pakt schließt. Inspiriert wurde die Komponistin und Librettistin vom Leben des Physikers Wolfgang Pauli und seinem Austausch mit dem bekannten Psychiater Carl Gustav Jung. Was nach einer Auseinandersetzung mit den Polen Wissenschaft und Spiritualität anmutet, gerät auf der Bühne der Staatsoper Hamburg in großen Teilen zu einem Duell männlicher Egos.
Aufstieg und Fall eines verlorenen Mannes
Dr. Kieron ist ein sehr geachteter Wissenschaftler, gleichzeitig ein unausstehlicher Misanthrop. Dennoch erfährt er viel fachliche Anerkennung, Loyalität von seinem Assistenten Cornelius und sogar Liebe von der drogenabhängigen Miriel, zu der er sich jedoch nicht öffentlich bekennt. Sein „Studierzimmer“ ist ihm Thron, Gefängnis und Zufluchtsort zugleich. Er leidet unter seiner Einsamkeit und unter seinen nächtlichen Träumen, in denen ihm stets drei Figuren begegnen: Ein Lichtwesen, das sein Schatten oder sein überzeitliches Ich darstellt, Anima für die weiblichen Anteile seiner Seele und „das lichte Mädchen“, das von Kieron vollständig unverstanden bleibt.

In seiner Not wendet er sich an den Seelenheiler Astaroth. Es entsteht eine Beziehung voller Konkurrenz und Misstrauen, Kieron gerät in ein Abhängigkeitsverhältnis und noch tiefer in seine Depression hinein. Als seine Kollegen und Konkurrenten ihn zwingen wollen, beim Bau einer neuartigen Bombe mitzuwirken und sein Verhältnis zu Astaroth dabei ans Tageslicht kommt, ist sein Ruf beschädigt. Als ihn auch noch seine Traumfiguren und Miriel verlassen, bleibt Kieron allein zurück.
Längen bis zur Lichtgestalt
Das Libretto lässt sich mit der Darstellung der Hauptfiguren, auch der Traumfiguren, viel Zeit – im ersten Akt zweifellos zu viel. Thomas Lehmann legt als Dr. Kieron einen sängerdarstellerisch tollen Start hin, arbeitet sich dann zu stark an dem dichten Text ab und benötigte als Nicht-Muttersprachler sehr viel Unterstützung der Soufflage (was er beim Schlussapplaus durch kollegiales Händeschütteln zu schätzen wusste). Chin lässt die Figuren in klugen, markanten Sätzen ihr Innerstes offenbaren, dabei sind lange Passagen als Sprechgesang konzipiert. Insgesamt krankt die Oper jedoch am überladenen Libretto und dessen mangelnder Stringenz. Die Musik begleitet indes farbenreich und perkussiv, ohne stilistische Zwänge, wie man es von Chin gewohnt ist. Die Bar-Szene, Kierons Flucht in den Rausch, komponierte sie als Jazz-Kneipenmusik-Intermezzo mit Bass und Akkordeon, die auch auf der Bühne agieren. Mitunter kommt die Kongruenz von den Figurenaffekten und der Musik in die Nähe des „Mickeymousing“, also der Untermalung einer Trickfilm-Szene durch Musik oder Geräusche, eine Kongruenz, die zur filmnahen Inszenierung passt – oder umgekehrt.

Gerade, als man vom narzisstischen Opfergebaren des Dr. Kieron und seinem Tappen im Dunkeln genug gesehen hat, erscheint eine Lichtgestalt – und zwar nicht nur in der Figur des Meister Astaroth, sondern auch in der Person seines Darstellers Bo Skovhus. Wie in früheren Auftritten an der Staatsoper Hamburg als Wozzeck oder als Don Giovanni verschmilzt er mit der Figur. Die sängerischen Anforderungen – Chin lässt ihn häufig im Falsett singen – meistert er im wahrsten Sinne des Wortes spielend.
Multimediale Möglichkeiten
Die Bühne von Jeremy Herbert überzeugt durch eine Mischung aus klassischen Elementen wie Dreh- und Schiebebühnen-Gestaltung sowie Video-Projektionen von Sophie Lux. Als Hologramme im Bühnenraum und auf der Gaze tragen diese lebendig zur modernen Ästhetik der Inszenierung bei. Kreativ ist auch der Umgang mit dem Mond, der sich als goldene Kugel im Bühnenraum hängend in ein Uhrenpendel verwandelt, eine Bombe freisetzen kann und sich in Schüsseln teilt, in denen unheilvolle Stoffe gerührt werden.

Die Kostüme von Janina Brinkmann spiegeln die triste Stimmung der Handlung einerseits sowie die nüchterne Welt der Wissenschaft wie auch die vermeintlich klare Welt der Psychoanalyse wider, sind daher in grau, braun, schwarz oder weiß gehalten. Farben gibt es kaum, eher „Elemente“ wie Silber oder Gold. Die Ausstattung passte sich wunderbar ins Gesamtkonzept des irischen Regie-Teams „Dead Centre“ der Regisseure Bush Moukarzel (der selbst Psychoanalyse studierte) und Ben Kidd ein. Sie ermöglichten das Spiel mit Licht und Dunkel, Aufstieg und Fall, Einsamkeit und Nähe. Der Einsatz der Handkamera mit Live-Projektionen lässt zudem eine feine Personenregie zu. Einzig der Chor hätte musikalisch wie szenisch bisweilen mehr Hingabe erfordert.
Das Beste kommt zum Schluss
Kent Nagano ist als Anwalt für Neue Musik bekannt, hier zeigt er, dass er auch ein Könner ist. Versiert führt er das Orchester durch die komplexe Partitur, gibt Sängerinnen und Sängern Orientierung und durch sein zurückhaltendes Dirigat der Bühne ihren Raum, wie auch den Klängen aus dem Graben ihre Bühne.

Sowohl kompositorisch wie auch dramatisch nimmt die Oper im zweiten Akt ein wenig an Fahrt auf. Ein Höhepunkt ist der Auftritt der Anima mit einer Arie, eine Glanzleistung des Countertenors Kangmin Justin Kim. Auch Bo Skovhus, Narea Son als „das lichte Mädchen” und Siobhan Stagg als Miriel dürfen sängerisch noch einmal erstrahlen. Am Ende, wenn Kieron stumm und allein auf der dunklen Seite des Mondes steht, wird es auch im Orchestergraben endlich ruhiger. Sehr stimmungsvoll erklingt nun die Leere, Einsamkeit und Traurigkeit der Hauptfigur. Zuvor ging es fast ununterbrochen musikalisch hoch her. Doch erst jetzt kann die Musik wirklich berühren.
Staatsoper Hamburg
Chin: Die dunkle Seite des Mondes
Kent Nagano (Leitung), Dead Centre (Regie), Jeremy Herbert (Bühne), Janina Brinkmann (Kostüme), Sophie Lux (Video), Thomas Lehmann, Bo Skovhus, Siobhan Stagg, Andrew Dickinson, Kangmin Justin Kim, Narea Son, Aaron Godfrey-Mayes, William Desbiens, Karl Huml, Jürgen Sacher, Philharmonisches Staatsorchester, Chor der Staatsoper Hamburg
Termintipp
Mi., 21. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Chin: Die dunkle Seite des Mondes
Thomas Lehman (Dr. Kieron), Bo Skovhus (Meister Astaroth), Siobhan Stagg (Miriel), Kangmin Justin Kim (Anima), Kent Nagano (Leitung), Dead Centre (Regie)
Termintipp
Di., 27. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Chin: Die dunkle Seite des Mondes
Thomas Lehman (Dr. Kieron), Bo Skovhus (Meister Astaroth), Siobhan Stagg (Miriel), Kangmin Justin Kim (Anima), Kent Nagano (Leitung), Dead Centre (Regie)
Termintipp
Sa., 31. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Chin: Die dunkle Seite des Mondes
Thomas Lehman (Dr. Kieron), Bo Skovhus (Meister Astaroth), Siobhan Stagg (Miriel), Kangmin Justin Kim (Anima), Kent Nagano (Leitung), Dead Centre (Regie)
Termintipp
Do., 05. Juni 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Chin: Die dunkle Seite des Mondes
Thomas Lehman (Dr. Kieron), Bo Skovhus (Meister Astaroth), Siobhan Stagg (Miriel), Kangmin Justin Kim (Anima), Kent Nagano (Leitung), Dead Centre (Regie)