Atmosphäre, Aura, Anspruch – Festspiele, die den Namen eines festlichen Spiels auch verdienen, sollten das Außergewöhnliche wollen und wagen, jedenfalls nicht nur den Alltag einer regulären Theater- oder Opernspielzeit fortsetzen. Anders gesagt: Festivals stehen für Ausnahmeereignisse, nicht für das „Abonnement Mittwoch blau“. Die Opernfestspiele Heidenheim sichern sich den Nimbus des Besonderen nun gar mit besonders langem Atem. Denn, flankierend zur alljährlichen großen Open Air-Oper im Rittersaal der Staufferburg Hellenstein aus dem 13. Jahrhundert, bringt Marcus Bosch in strikter chronologischer Reihenfolge das Frühwerk Giuseppe Verdis heraus. Das Label Coviello Classics zeichnet die Endproben und die jeweils beiden Aufführungen für eine CD-Produktion auf, der SWR sendet einen Mitschnitt. Spätestens zur Premiere des nächsten jungen Verdi liegt dann die fertige CD aus dem vergangenen Jahr vor, die im Festivalpublikum begeisterte Abnehmer findet. Denn die Identifikation der Heidenheimer Bürgerschaft mit ihren Festspielen ist extrem ausgeprägt. Oper gibt es hier schließlich nur einmal im Jahr. Die Vorfreude auf den nächsten Festspieljahrgang dauert somit nahezu elf Monate. Die Wahrnehmung der Festspiele ist freilich längst eine überregionale und sogar internationale. Als aktuelle „Operneinspielung des Jahres“ die der Opus Klassik auszeichnet, darf sich die Aufnahme von Giuseppe Verdis „Giovanna d’Arco” rühmen.

Zwischen der Last der Tradition und der Lust am „come scritto“
Garanten und Konstanten des Erfolgs dieser besonderen Reihe sind neben Marcus Bosch als dirigierendem Intendanten die beiden Klangkollektive. Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn und die Cappella Aquileia. Die Ensembles teilen mit dem Maestro die maximale Motivation, Verdi von der Last der Tradition zu befreien und sich ihm mit der Lust am „come scritto“ durchaus historisch informiert zu nähern. Da wird nun über die kleine Notenwerte nicht hinweg gehudelt; da wird das Hm-Ta-Ta nicht als Verdi-Vorurteil der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern gefragt, wie die Volksmusikanteile der in Italien noch heute lebendigen Banda-Kultur sich mit der Kunstmusik verbinden; da wird mit dem wohldosierten Mehr und besonders dem Weniger von Vibrato experimentiert und der genau gearbeiteten Artikulation eine ebenso wichtige Rolle eingeräumt wie dem genuin italienischen Melos. Solcher Verfeinerungstaktik bedarf nun just Verdis Oper Nr. 9 noch mehr als seine acht vorangegangenen Werke fürs Musiktheater.
Denn just der „Attila“ strotzt denn doch vor martialischer Musik, mit der die diversen politischen Gruppierungen und Persönlichkeiten der Handlung sich ihrer Macht versichern. Schließlich erzählt das Stück vom Einfall der Mannen des Hunnenkönigs Attila ins Römische Reich. Das bei aller holzschnittartigen Zuspitzung der Figuren letztlich verblüffend Moderne in Libretto und Musik: Echte Sympathieträger kennt das Stück kaum. Wohl konnte sich das Publikum der Uraufführung anno 1846 im Teatro La Fenice in Venedig einst mit den von den heidnischen Hunnen brutal überfallenen Römern identifizieren: Die Italiener sahen – wie wenige Jahre zuvor bereits im „Nabucco” – das Schicksal der eigenen „patria oppressa” gespiegelt, sie träumten von der Befreiung der von den Österreichern besetzten Landesteile.

Die starke Frau des Stücks will selbst Hand anlegen an das Monster aus dem Osten
Dennoch sind der römische Feldherr Ezio (Bariton Marian Pop mit Bombenhöhe bis zum Hohen B) und Foresto (Tenor Adan Sánchenz mit der schönsten Stimme des Abends), der Ritter aus der überfallenen Stadt Aquileia, so wenig ausgeprägte „nice guys” wie Odabella (Sopranistin Leah Gordon meistert die multiplen Anforderungen zwischen Agilität und Dramatik sowie den extreme Registerwechseln beeindruckend) als einzige weibliche Figur des Stücks ein „nice girl” wäre. Denn auch die Tochter des ermordeten Herrschers von Aquileia trachtet neben ein bisschen Liebe doch nur nach Rache, die sie – ganz „donna forte e feroce” – keineswegs den beiden Männern an ihrer Seite überlassen mag: Sie will selbst Hand anlegen an das Monster aus dem Nordosten Europas, schont Attila zunächst gar vor dem Giftanschlag ihrer Mitstreiter.

Die Geschichte der Gewalt wiederholt sich
Nur: Wie soll man dieses mit grobem Pinsel gemalte Schlachtengemälde einigermaßen sinnstiftend in Szene setzen? Auffällig in dieser Hinsicht: Viele Opernhäuser – zuletzt etwa die Semperoper Dresden – ziehen konzertante Versionen einer Inszenierung vor. Marcus Bosch vertraute nun mit Matthias Piro einem aufstrebenden jungen Regisseur die herausfordernde Aufgabe an. Und der 27-Jährige trat mit seinem schon bewährten Team aus Lisa Moro (Bühne und Kostüme) sowie Jonas Dahl und Janic Bebi (Video) beherzt die Flucht nach vorn an. Die kaum optimistische These des Teams: Die Geschichte der Gewalt, der Intrige, der Manipulation der Massen und der miesen Allianzen wiederholt sich. Gelernt haben wir seit den archaischen Zerstörungsritualen (auf dem Planet) der Affen offenbar nichts. An Anfang und Ende der Opernhandlung steht der animalische Rückfall in die Regression plumper Gewalt. Auf dem Höhepunkt der Handlung spitzen Videos die Wiederkehr des Wahnsinns so plakativ wie für Teile des Publikums provokativ zu: Der deutsche und der italienische Diktator des Faschismus sind in historischen Filmeinspielungen zu sehen, dazu der im zweiten Weltkrieg amtierende Papst (der als schillernde, offiziell neutral agierende Figur der Kirche nur bedingt Schlimmeres verhinderte), schließlich der aktuelle amerikanische Präsident und die Rechtsaußenpolitiker der heutigen Bundesrepublik.

Die wohlgekleidete Wölfin im Schafspelz
In seiner Zeichnung der Figuren deutet Matthias Piro an, wer denn Ähnlichkeiten im Stück mit den Monstern von einst und heute haben könnte. Besonders auffällig in der Flut der Videos zwischen Sturm auf das Capitol von Washington, der Besetzung des Bundestags, einem Attentat auf Attila, bei dem der sich an das rechte Ohr fasst wie Trump bei seinem Anschlag während des Wahlkampfs: Odabella könnte als EU-Politikerin eine Wiedergängerin von Giorgia Meloni sein, die zwar keineswegs eindeutig die falsche Seite repräsentiert, aber als wohlgekleidete Wölfin im Schafspelz nicht davor zurückschreckt, mit den Mächten der Finsternis zu paktieren und einen Waffenstillstand mit dem Monster Attila zu schließen, wenn es ihr denn Nutzen verspricht. Solchen ewigen und dennoch hoch aktuellen Mechanismen der Macht nachzuspüren, ist ein großes Verdienst der Inszenierung. Nicht minder treffend beobachtet die Regie die Wandlung der Titelfigur, der Robert Pomakov seinen imposant herrischen Bass leiht: vom Monstertier mit freiem Oberkörper zum angepassten Politiker im feinen Zwirn, der in einer Konferenz der EU artig den Regeln des Anstands folgt.

Stretta-Effekte und feine Farben
Marcus Bosch und seine Cappella Aquileia, dazu der klangprächtige Tschechische Philharmonische Chor Brünn verdeutlichen dazu mit Fortune, dass und was in der Partitur jenseits der tradierten Opern-Schemata und der schmetternden Stretta-Effekte steckt. Federnd, feurig und fesselnd dirigiert der Intendant der Opernfestspiele Heidenheim. Und dennoch hinterlassen die Momente der feinen Farben im Vorspiel oder im intimeren dritten Akt den nachhaltigsten Eindruck. Der hohe Anspruch der Festspiele wird mit Nachdruck eingelöst. In 2026 ist Verdis Nr. 10, der „Macbeth”, im Festspielhaus zu erleben. Dazu steht der reife Verdi mit seinem „Otello” – wiederum auf eine Vorlage Shakespeares – im Rittersaal unter freiem Himmel auf dem Programm. Man darf gespannt sein, wie der rote Verdi-Faden weitergesponnen wird!
Opernfestspiele Heidenheim
Verdi: Attila
Marcus Bosch (Leitung), Matthias Piro (Regie), Lisa Moro (Bühne & Kostüme), Jonas Dahl & Janic Bebi (Video), Leo Moro (Licht), Gerhard Herfeldt (Dramaturgie), Robert Pomakov, Marian Pop, Leah Gordon, Adam Sánchez, Musa Nkuna, Jared Ice, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Cappella Aquileia