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Opern-Kritik: Staatstheater Cottbus – Mazeppa

Brüche und Widersprüche

(Cottbus, 25.10.2020) Andrea Moses macht aus Tschaikowskys „Mazeppa“ eine atemberaubende Studie über den Untergang eines Imperiums.

vonRoberto Becker,

Wenn am Staatstheater Cottbus auf dem Zwischenvorhang die Schlagzeile „Und das Imperium schlägt zurück“ eingeblendet wird, dann weckt das heutzutage gleich mehrere Assoziationen. Man denkt nicht nur an die Vorbilder aus der Welt der Kino-Blockbuster oder an den einen oder anderen Gewaltakt der aktuellen Kremlherrscher, wie sie in Andrea Moses’ Inszenierung von Tschaikowskys „Mazeppa“ direkt anklingen. Seit Monaten schlägt bekanntlich auch das Imperium der Viren in einem globalen Angriff auf die Welt der Menschen zurück – oder zu. Im Saal des schönsten Jugendstiltheaters Deutschlands dürfen so nur gerade mal einhundert Zuschauer sitzen. Wie sich im Laufe des etwas über zweistündigen, pausenlosen Abends zeigt, sind sie damit privilegierte Teilnehmer eines Opernereignisses von Rang.

Das russisch singende Protagonisten-Ensemble ist phantastisch

Szenenfoto mit Andreas Jäpel (Mazeppa) und Kim-Lillian Strebel (Maria)
Szenenfoto mit Andreas Jäpel (Mazeppa) und Kim-Lillian Strebel (Maria)

Im Graben müssen GMD Alexander Merzyn und die 26 zugelassenen Musiker des Philharmonischen Orchesters den ganz großen Tschaikowsky-Opernton treffen. Was ihnen mit aller Kraft und viel Geschick hervorragend gelingt. Auf der Bühne tragen selbst die Sänger Mundschutz, wenn sie sich zu nahe kommen. Was bei einer so zupackend inszenierenden Regisseurin wie Andrea Moses eigentlich immer der Fall ist. An dieses Maske auf-Maske ab gewöhnt sich der Zuschauer so schnell, wie es ihm im eigenen Alltag (und beim Überschreiten der Schwelle des Theaters) halt auch zunehmend gelingt. Die Sänger muss das nerven. Aber die Freude daran, endlich mal wieder ihren Beruf auszuüben, überwiegt hörbar. Das russisch singende Protagonisten-Ensemble ist (auch ohne jeden Corona-Bonus) phantastisch. Der kraftvolle Andreas Jäpel misst die Dimension der Titelpartie vom überschießenden Machtbewusstsein bis in die Verzweiflung des Geschlagenen eindrucksvoll aus. Kim-Lilian Strebel bringt als Maria zwischen jugendlicher Naivität und Schicksalsüberforderung die Leuchtkraft ihrer Stimme ein. Wenn Tenorstrahlemann Alexey Sayapin als Andrej bei ihr keine Chance hat, dann liegt das jedenfalls nicht an seiner phänomenalen vokalen Überzeugungskraft. Ulrich Schneider ist als spießiger Vater Marias ebenso glaubwürdig wie als Opfer politischer Willkür. Gesine Forberger hat als Mutter ihren großen Auftritt, als sie versucht, die Hinrichtung ihres Mannes bei einem Besuch bei der ahnungslosen Tochter abzuwenden.

Wenn der Chor zum Publikum wird

Szenenfoto mit Dirk Kleinke (Betrunkener Kosak) und Thorsten Coers (Opernchor)
Szenenfoto mit Dirk Kleinke (Betrunkener Kosak) und Thorsten Coers (Opernchor)

Optisch fügt sich die unfreiwillige Maskierung der Protagonisten dennoch in die Bilder auf der Bühne ein, weil die sowieso nah an unsere Gegenwart herangeholt werden. Der im gesamten ersten Rang verteilte Chor (Einstudierung: Christian Möbius) steuert von da nicht nur einen fulminanten Raumklang bei, so dass man immer dann, wenn er dran ist, meint, man sei mittendrin. Wenn die Chormitglieder per Live-Kamera auf den Zwischenvorhang projiziert werden, dann sind sie allesamt auch Publikum. Und zwar eins, das über das Für und Wieder von mancher Entscheidung der Protagonisten auf der Bühne auch mal kontrovers diskutiert.

Szenischer Witz vor der runtergekommenen Plattenbaufassade

Auf der Bühne ist der charismatische Kosakenhauptmann Mazeppa in der Lesart von Moses und in der Optik von Christian Wiehle (Bühne) und Meentje Nielsen (Kostüme) ein prototypischer Wende-Gewinner und Macher des einziehenden entfesselten Neukapitalismus. Mit einem Politikerhabitus, der an die jüngsten, ziemlich albernen Tanzeinlagen von Donald Trump (aber auch an die von Boris Jelzin) erinnert. In solchen Momenten kommt szenischer Witz auf vor der runtergekommenen Plattenbaufassade. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass die eine offene Wunde in Form eines Sowjetsterns hat. Offenbar eine metaphorische Bruchstelle, die das private Alltagsleben der Menschen, auch nach dem Ende der Sowjetherrschaft immer noch beherrscht.

Das Trauma von Stalins Terror

Andere, wie das Trauma von Stalins Großem Terror, kommen von noch weiter her und gehen wohl auch tiefer. An die Widerlichkeiten von Gulag und Schauprozessen erinnert eine Szene, in der der Vater Marias zum prototypischen Opfer der Mächtigen wird. In der ursprünglichen Geschichte hatte dieser Kotschubej den um Jahrzehnte älteren Mazeppa als Bewerber um die Hand seiner Tochter abgewiesen und sogar beim Zaren wegen heimlicher Aufstandabsichten denunziert. Doch der liefert ihn an Mazeppa aus. In der Neuerzählung der Geschichte landet der in einer metaphorischen Todeszelle und muss nicht nur in der Maske eines russischen Bären, aus Sowjetfahnen nostalgische Shorts mit Hammer-und-Sichel-Logo nähen, sondern unter Folter jeden noch so absurden Unsinn zugeben, der ihm in den Mund gelegt wird.

„The best Vodka I know“

Szenenfoto mit Kihoon Han (Orlik) und Ulrich Schneider (Kotschubej)
Szenenfoto mit Kihoon Han (Orlik) und Ulrich Schneider (Kotschubej)

Über dieser Zelle prangt unter dem Schriftzug „Jelzin“ ein Herrscherporträt Mazeppas mit dem Untertitel „The best Vodka I know“. Die neue Macht biedert sich halt überall gerne auf Englisch an. Wenn aber in kyrillischer Schrift auf einem Werbeplakat für ein neues Hochhaus neben dem alten „besseres Wohnen in der neuen Residenz“ verspricht, dann dauert es nicht lange, bis jemand in kyrillischen Lettern „Lüge“ darüber klebt. An solchen Stellen spielt die Regie durchaus bewusst mit den erfahrungsgespickten Vorkenntnissen des Publikums in einem der östlichsten Theater der Republik. Abgesehen von einigen Videoeinblendungen (René Liebert) obliegt der Lärm des Krieges, mit dem Mazeppa seine gesellschaftliche Position verspielt und in die Flucht geschlagen wird, ausnahmsweise allein dem entsprechenden Orchesterzwischenspiel, das fast so plastisch klingend wie Tschaikowskys Festouvertüre „Das Jahr 1812“ daherkommt. Für das deprimierende Finale einer zerstörten Welt herrscht dann wieder jene enge Verbindung von Musik und Szene, die diese eindrucksvolle Inszenierung ansonsten bestimmt. Am Ende hat Maria den Verstand verloren, Mazeppa hat gegen seine Absicht Andrej erschossen und ist von nun an auf der Flucht. Das alte Hochhaus ist zerstört, das Neue wird wohl vorerst nicht gebaut. Kinder betteln zwischen den Ruinen. Und spielen Krieg. Was mag es da wohl nützen, dass sich die schwer gezeichnete Maria die kyrillischen Buchstaben für „Demokratie“ auf die Brust gemalt hat?

Staatstheater Cottbus
Tschaikowsky: Mazeppa

Alexander Merzyn (Leitung), Andrea Moses (Regie), Christian Wiehle (Bühne), Meentje Nielsen (Kostüme), Clementine Pohl (Kostüm-Mitarbeit), René Liebert (Video), Reinhard Traub (Lichtdesign), Christian Möbius (Choreinstudierung), Michael Höppner & Katharina Duda (Dramaturgie), Andreas Jäpel, Kim-Lillian Strebel, Ulrich Schneider, Alexey Sayapin, Gesine Forberger, Kihoon Han, Hardy Brachmann, Dirk Kleinke, Alexander Teutscher, Cristina Voce, Philharmonisches Orchester des Staatstheaters Cottbus

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