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OPERN-KRITIK: STAATSTHEATER MEININGEN – GESPENSTER

Musikalische Waschkraft gegen Psychomüll

(Meiningen, 23.2.2024) Henrik Ibsens Skandalstück „Gespenster“ hatte 1886 am Meininger Hoftheater die erste öffentliche Aufführung in Deutschland erlebt. Jetzt wurde die Geschichte als erste Oper des Norwegers Torstein Aagaard-Nilsens am selben Ort sehr zu Recht umjubelt. Die trügerisch filigran komponierte Literaturoper hat es in sich.

vonRoland H. Dippel,

Torstein Aagaard-Nilsens erste Oper ist viel aktueller als sie am Staatstheater Meiningen wirkt. Dort gelangte sie nach vier Jahren Verzögerung endlich zur Uraufführung. Erst die Pandemie, dann die Entdeckung des vollständigen „Iwan IV“ von Georges Bizet schoben die trügerisch filigran komponierte Literaturoper mit radikalisierter Psycho-Story ins Jahr 2024. So kam es zum Triumph eines Produktionsteams, dessen Meininger Ägide eigentlich schon 2021 endete. GMD a. D. Philippe Bach dirigierte souverän die Partitur mit äußerst dankbaren Gesangspartien, Intendant a. D. Ansgar Haag führte Regie mit dem Blick auf das Wesentliche zwischen den Figuren. Das Publikum jubelte bei der ersten Meininger Musiktheater-Uraufführung im großen Haus seit langem. Henrik Ibsens Skandalstück „Gespenster“ hatte 1886 am Meininger Hoftheater die erste öffentliche Aufführung in Deutschland erlebt.

Szenenbild aus „Gespenster“
Szenenbild aus „Gespenster“

Norwegischer Opernerstling in Meininger Traditionslinie

Der Norweger Torstein Aagaard-Nilsen (Jahrgang 1964) – bekannt in Meiningen durch die Konzertwerke „Reverie“ und „Boreas Blows“ – veroperte 40 Jahre nach Antonio Bibalo erneut Henrik Ibsens Schauspiel „Gespenster“. Seine erste Opernpartitur wirkt sorgfältig gestaltet vom ersten bis zum letzten Takt. Die Glasharfe setzt pittoreskes Klangwerk zwischen dem transparenten, polytonalen Satz und der arios verdichteten, oft mit kleinzelliger Melodik garnierten Deklamation. Das gerät zur atmosphärisch dichten Grundlage von Ansgar Haags deutlicher Regie als einer Salontragödie aus dem späten 20. Jahrhundert. Dieter Richter setzte für diese ein Couch-Ensemble in ein großzügiges Raumgefüge mit beweglicher Holzwandverschalung. Darüber dräut ein symbolträchtiger Rundhorizont mit den Schollen aus Caspar David Friedrichs „Eismeer“. Die Skandinavismen der Partitur, der Szene und der Regie bleiben immer geschmackssicher und nobel. Die Musik rebelliert gegen den psychischen Müll mit Riesenwaschkraft.

Szenenbild aus „Gespenster“
Szenenbild aus „Gespenster“

Simulationskraft mit filmischen Mitteln

Die Autorin und Zeichnerin Malin Kjelsrud machte mehrere Episoden zu direkter Handlung, die bei Ibsen nur erzählt werden. Die „Gespenster“ der Vergangenheit sind also voll sichtbar. Haags Regie setzt auf Simulationskraft mit filmischen Mitteln. Die Hauptfigur Helene Alving ist gespalten in eine jüngere Leidende und eine ältere Wissende, die in der Partitur nicht gegeneinander, sondern synchron singen. Auf dramatisches Dynamit reagiert die Musik mit gläserner Transparenz und gedämpften Farben. Die Meininger Hofkapelle bleibt präsent auch in der Zurückhaltung. Nur die Bühne schreit nach Hollywood, das Orchester nicht. Und Philippe Bach holt Spannung auch aus dem Filigranen.

Das von Ibsens Helene als moralische Fassadenmalerei für ihren ungeliebten Gatten gedachte Kinderheim ist unwesentlich, auch die vom Vater auf den Sohn Osvald übertragene Syphilis. In der Oper geht die Mutter sogar in den Tod, während der in einem visionären Schlussmoment sich mit Regine in eine mutterlose Lebenszone davon tollt.

Szenenbild aus „Gespenster“
Szenenbild aus „Gespenster“

Tragödien-Aktualisierung

Ein tragödisches Moment wird durch ein anderes ersetzt: Osvald und die von ihm geliebte Regine Engstrand sind in der Oper keine leiblichen Halbgeschwister. Der zu geliebte Sohn entstammt nicht Helenes Ehe mit dem ungeliebten Erik, sondern dem einmaligen Seitensprung Helenes mit dem Pastor Gabriel Manders. Mit einer Inzest-Lüge treibt Helene also den mit Tabletten aus dem Leben ziehenden Sohn und die das irreparable Geisterhaus fliehende Regine auseinander. Ibsens psychologische Konsequenz wächst in der Oper zur diabolischen Quadratur. Helene kommt von ihrer unerreichbaren Fernliebe, dem Pfarrer, nicht los und liefert ihrem zwangsläufig auf Seitensprungpfade fliehenden Mann einen perfekten Haushalt mit stählerner Lieblosigkeitsgarantie.

Szenenbild aus „Gespenster“
Szenenbild aus „Gespenster“

Karitative Sympathie mit den Figuren

Aber Ansgar Haag ist sich einig mit der Partitur, die für alle Figuren eine maßvolle, fast karitative Sympathie hegt und sich nach der Pause nur unwesentlich mit einem Zacken Expressivität auflädt. Mit fast brechtisch anmutendem Verfremdungsehrgeiz bringt seine Musik keine weiteren Überraschungen in die Emotionsturbulenzen und Enthüllungshäppchen. Fast wie in einer Barockoper ragen moralische Sentenzen aus den Duetten der geteilten Helene Eins und Zwei auf. Dazu staffierte Kerstin Jacobssen die Figuren mit dem Chic gehobenen Boulevardtheaters aus. Vor allem Osvald mit Joseph-Beuys-Hut und Mantel brachte intellektuelles Flair in ein Geschehen, welches die Paris-Sehnsucht der Jungen fast zur Karikatur machte.

Szenenbild aus „Gespenster“
Szenenbild aus „Gespenster“

Emotionsturbulenzen und Enthüllungshäppchen

Einmal mehr veredelt das prachtvolle Meininger Musiktheater-Ensemble einen ambitionierten Abend. Unter dem Ausgleichsklima der Produktion leidet die gesanglich souveräne Marianne Schechtel als gereifte Helene etwas. Weitaus mehr vulkanische Energie als „desperate housewife“ artikuliert Sara-Maria Saalmann als junge Helene. Shin Taniguchis konturierter Bariton und starke Persönlichkeit geben dem Pastor Manders ein imposantes Gegengewicht zu den Hauptpartien. Glasklar in Koloratur, Ausdruck und Intensität ist Monika Reinhard als Regine Engstrand ein Ideal echter Empathie, Aufrichtigkeit und ausbalanciertem Selbstbewusstsein. Alex Kim gibt einen auch tenoral einnehmenden und moralisch gereinigten Vater Erik.

Emma McNairy setzt die bei Ibsen nicht auftretende Mutter Regines als prägnante Persönlichkeit mit intensiven Lockrufen. Der ukrainische Tenor Mykhailo Kushlyk macht die Metamorphose Osvald Alvings vom Flüchtling aus den Mutterfittichen heraus und zurück mit lyrischer Expression und Weichheit deutlich. Mikko Järviluoto gibt den zwar freisinnigen, aber nicht das Beste für Regine wollenden Ersatzvater Jacob Engstrand als Fremdkörper mit Hippie-Anwandlungen. Im noblen Hintergrund hielt sich der Chor in Roman David Rothenaichers Einstudierung auf hohem Niveau. Ibsen zeigt dabei weitaus mehr Verständnis für die Frauen als diese Oper, für die das Produktionsteam Geburtshilfe mit Samtpfoten leistete.

Staatstheater Meiningen
Torstein Aagaard-Nilsen: Gespenster

Philippe Bach (Leitung), Ansgar Haag (Regie), Dieter Richter (Bühne), Kerstin Jacobssen (Kostüme), Roman David Rothenaicher (Chor), Julia Terwald (Dramaturgie),mMarianne Schechtel, Sara-Maria Saalmann, Shin Taniguchi, Alex Kim, Mykhailo Kushlyk, Monika Reinhard, Emma McNairy, Mikko Järviluoto, Chor des Staatstheaters Meiningen, Meininger Hofkapelle

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