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Opern-Kritik: Theater Bremen – Der feurige Engel

Von der göttlichen Entzückung zur ungebremsten Massenhysterie

(Bremen, 26.10.2025) Mit schneidender Wucht lässt Barbora Horáková am Theater Bremen Prokofjews nur schwer zu inszenierende Oper „Der feurige Engel“ wahrlich auflodern.

vonPatrick Erb,

Renata hat gesündigt. Sie hat sich von Gott fehlleiten lassen. Oder von ihrem Verstand? Sie sieht einen feurigen Engel, der ihr seit frühester Kindheit Begleiter, Freund, Ratgeber und einziger Vertrauter ist. Mal erscheint er ihr in Gestalt eines Schmetterlings, den sich Renata ins Haar setzt, mal als Stigma. Sein Name ist Madiel, und er verlangt Renata viel ab. Sie soll sich als Glaubensbeweis geißeln, soll sich blutig peitschen. Renata hat gesündigt.

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Nur Ruprecht, der von Renata bis ins Manische fasziniert ist, hält zu ihr, will sie verstehen, sie vom Engel befreien. Doch diese Versessenheit führt Ruprecht in den Ruin. Renata weist ihn zurück. Verliert auch er bald den Verstand?

Am Theater Bremen kam Prokofjews „Der feurige Engel“ nun in einer fulminanten Inszenierung von Barbora Horáková auf die Bühne, die die orgiastische Musik mit grotesker Absurdität, Witz und lebhafter Erzählperspektive verbindet. Das in den 1920er-Jahren begonnene und zu Lebzeiten nie aufgeführte Stück ist freilich kein heiteres. Es ist düster, wirr und stetig eskalierend – und blickt vor allem genau auf die Psychologie seiner Figuren.

Szenenbild aus „Der Feurige Engel“
Szenenbild aus „Der Feurige Engel“

Vom Symbolismus der Vorlage zur Psychoanalyse der Bearbeitung

Die symbolistische Romanvorlage von Waleri Brjussow unterscheidet sich davon erheblich. Sie kokettiert mit einer bis ins Artifizielle gesteigerten Frühform des Bildungsbürgertums: Der Protagonist Ruprecht ist ebenso unwahrscheinlich gebildet und weltgewandt wie seine Vorbilder – vom Universalgelehrten Erasmus von Rotterdam bis zum auch in der Oper auftretenden Okkultisten Agrippa von Nettesheim. Prokofjews „Feuriger Engel“ tilgt viel von dieser mittelalterlichen Scholastik. Er nimmt dem Engel die Mystik und Ruprecht seinen Konflikt zwischen Ratio und Wahn. Was bleibt, ist die Psychose.

Die findet bei Horáková Platz in einem entseelten Setting aus kaltem Stahlgerüstbau, neonorangenen Flächen und einem enggeschnürten Korsett dadaistischer Wahnsinnsszenen. Es entsteht eine Hommage an den Stil des US-amerikanischen Films zwischen Crime Scene Investigation, Roadmovie, Black Rain und Pulp Fiction. Es werden Bauklötze gestapelt, auf Tischen und um sich selbst getanzt, und viel Porzellan der Menschlichkeit zerschlagen. Mittelalterliche Praktiken leiden dabei gewiss nicht.

Szenenbild aus „Der Feurige Engel“
Szenenbild aus „Der Feurige Engel“

Vielseitig gestaltete Raumbühne

Ines Nadlers effizient gestaltete, facettenreiche Drehbühne eröffnet zahlreiche Perspektiven. Eine davon, das heruntergekommene Hostel, in dem sich Renata und Ruprecht näherkommen, dient Nadine Lehner in der Rolle der Besessenen als Plattform, um ihr gewaltiges Talent unter Beweis zu stellen. Lehner ist eine Darstellerin von beängstigender Ausdauer. Denn bei Prokofjew spricht der Engel nicht – Renata spricht für ihn. Und das pausenlos. Sie erzählt Ruprecht von ihrer Kindheit und der Begegnung mit dem Engel. Ihr Gesang ist ein beispielloser Marathon komplexester Phrasierungen – nur der erste schaurig-glanzvolle Höhepunkt von vielen.

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Ein faszinierendes Bild bietet die Szene bei Agrippa, von dem sich Ruprecht Hilfe verspricht und der hier als Provinzsaalzauberer in roter Anzugweste, Moustache und Zylinder erscheint. Seine Bühne ist eine Abtreibungsklinik, in der die Renatas dieser Welt – unzählige maskierte Doubles von Nadine Lehner – reihenweise eintreten und zur Katzenklappe wieder hinauskriechen. Hier verrennen sich die Figuren vollends in ihrer Paranoia, und Prokofjews an Lautstärke und Entfesselung gewinnende Musik zieht mit.

Szenenbild aus „Der Feurige Engel“
Szenenbild aus „Der Feurige Engel“

Fordernde, aber geniale Bildsprache zwischen Gothic und Punk

Der Scharlatan Agrippa (mit donnernder, durchschlagender Präsenz: Ian Spinetti) gibt sich als gewissenhafter Naturwissenschaftler und warnt Ruprecht davor, sich im Okkultismus zu verlieren. Doch Renata hilft das nicht. Ihr versucht man die Besessenheit blutig aus dem Unterleib zu treiben. Nichts hilft. Ruprecht, den Elias Gyungseok Han schauspielerisch mit allen Mitteln der Leere und Selbstaufgabe zeichnet, ist desillusioniert. Er reiht sich nunmehr ein in die Reihe jener halbrealen Hirngespinste, die in der Oper herumgeistern – ob Mephisto (dämonisch böse: Fabian Düberg) oder Heinrich, in dem Renata die Emanation des Engels zu erblicken glaubt. Hier sagt die Stille mehr als der nicht minder ausdauernde, raumgreifende Bariton. Er distanziert sich von Renata – und ist ihr doch verfallen.

Schließlich geht Renata ins Kloster. Göttliche Hilfe erhält sie dort nicht, aber sie lernt die Angst des Inquisitors kennen (in narkotisch-verzweifeltem Wahn verfallen: Jasin Rammal-Rykała), der weinerlich-flehend einen Exorzismus an ihr durchführt. Hier zieht Horáková die Reißleine des verwirrenden Ungewissen und setzt auf brachialen Realismus. Aus der Hilfsbedürftigen wird die Verurteilte, aus dem Versuch der Heilung ein Genozid der Masse gegen die Eine. Inquisitor, Nonnen, Volk – alle wenden sich hysterisch gegen Renata, die gefedert, geteert und zu dem gemacht wird, was alle in ihr sehen: ein satanisches Wesen, einen schwarzen Unglücksengel.

Renata hat gesündigt.

Theater Bremen
Prokofjew: Der feurige Engel

Stefan Klingele (Leitung), Barbora Horáková (Regie), Ines Nadler (Bühne), Eva-Maria van Acker (Kostüme), Christian Kemmetmüller (Licht), Sergio Verde (Video), Karl Bernewitz (Chor), Elias Gyungseok Han, Nadine Lehner, Ulrike Mayer, Fabian Düberg, Ian Spinetti, Wolfgang von Borries, Jasin Rammal-Rykała, Opernchor des Theater Bremen, Bremer Philharmoniker






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