Seit April 2024 hat München mit dem Bergson Kunstkraftwerk einen postindustriellen Edelevent-Tempel wie zum Beispiel Essen mit PACT Zollverein. Weit sichtbar überragt der aufwändig renovierte Industriebau mit einer gigantischen Haupthalle, einem variablen Konzertsaal, Ausstellungs- und Begegnungsflächen das westliche Siedlungsgebiet Aubing – ein säkulares Pantheon für Kultur, Kult, Kulinarik. Und jetzt für ein Wochenende der Schauplatz der Opernperformance „Lazarus oder die Auferstehung“. Die drei Vorstellungen des Hybrids aus choreographiertem Oratorium, Melodram und Schauspiel war eine Idee der Regisseurin Martina Veh. Sie switchte diese Produktion der meist im Prinzregententheater auftretenden Bayerischen Theaterakademie August Everding ins Bergson Kunstkraftwerk.
Außerdem war es Vehs Vision, das von Franz Schubert im Jahr 1820 abgebrochene Fragment „Lazarus oder Die Feier der Auferstehung“ nach einem von August Hermann Niedermeyer für Johann Heinrich Rolle bestimmten Textbuch mit dem Bühnenmonolog „The Blind“ von Richard France zu verschränken. Ein ambitioniertes wie höchst komplexes Gedankengebäude – mindestens so weit wie die drei Ebenen, auf denen das Publikum in der von Tageslicht umspielten Nachmittagsvorstellung, abends in der als spektakulär bezeichneten Lightshow von Ramona Lehnert wandeln und wechselnde Perspektiven einnehmen konnte.
Überwältigende Raumwirkung
Blendende Raum- und Akustikeffekte zeichneten die 80 Minuten dieses breit ausladenden wie abstrahierenden Doppeldramas über das neutestamentliche Jesus-Wunder und die letzten Dinge aus: Bei Schubert ist es die von diesem entweder aus persönlicher Scheu oder aufgrund einer mit vielartigen Musiktheater-Versuchen gefüllte nicht komponierte Erweckung und Auferstehung des Lazarus – bei France die Frage nach der multipolaren Bedeutung des Mörders Barabbas.

France gibt sich allerdings weitaus philosophischer als der Mitte des 20. Jahrhunderts mehrfach dramatisierte und verfilmte Bestsellerroman „Barabbas“ von Pär Lagerkvist. Die Fülle der Fragen überforderte die insgesamt fast 1500 Zuschauer.
Besonders hoher Anspruch für eine Produktion mit Studierenden
Die Musiktheater-Produktionen der Theaterakademie haben einen merkbar starken Publikumsstamm. Der Anspruch ist hier höher als sonst bei Studierendenproduktionen. Die Mitwirkenden bei dem, was man ein performatives Hauptseminar und Postgraduierten-Kolleg nennen könnte, haben bereits einige Erfahrung, was den knappen Proben am Aufführungsort zugute kam. Imponierender Bonus: Man benötigte keinerlei elektronische Hilfsgeräte. Die in bis zu 35 Meter Entfernung agierenden Instrumentalgruppen mit zwei Flügeln, zwei Klarinetten und drei Posaunen klangen schillernd, vibrierend und doch nicht ganz bei sich. Auch für die Stimmen der jungen Sängerinnen und Sänger war Eigeninitiative des Publikums für den optimalen Akustikpunkt notwendig. Direkt pulst in diesen Dimensionen aus Stahl, Holz, Beton und Glas wenig, aber alles imponierend voll.
Die reibungsintensive Synergie und choreographierte Körperlichkeit sind beeindruckend – vor allem der Zentralfiguren des Lazarus von Henrique Lencastre und des auf die drei Schauspieler Cosimo Scherrer, Ivo Borger und Laurens Gujber aufgeteilten Barrabas. Der Dirigent Joachim Tschiedel erstellte aus Schuberts Instrumentation ein karge, ja asketische Fassung. Vokale Melodik und die im Raum dialogisierenden Fragmentationen der Instrumente ergaben mehrere emotionale Momente. Vor allem das fast immer berückend reine und stellenweise aus sphärischen Höhen singende Frauen-Trio mit Rusnė Tušlaitė, Lilian von der Nahmer und Alina Berit Göke erlebte Risiken beim vokalen Flügelschwingen im Raum zum absturzgefährdeten Ritt über den Bodensee. Die Männer – unter ihnen der bemerkenswert gefasst und sensitiv gestaltende Tenor Mose Lee – hatten es durch vermehrte Bodenhaftung und Treppenläufe etwas leichter.

Dramaturgische Nicht-Haltung
Interessant hier die Nicht-Haltung der Dramaturgie und berührungsscheuer Ferne zum ethischen und strukturellen Geschehen: Fanny Karos und Annabell Strobel verlieren kein Wort über Tschiedels praktisch-ästhetische Absichten für seine Schubert-Arrangements und die unter erschwerten Bedingungen entstandenen Kompositionen von Alexander Strauch.
Keimzelle des Barrabas-Supplements im Bergson war Frances „The Blind“ als Vehs Prolog zur Eröffnung des Neubaus der Münchner Performance-Location Schwere Reiter vor vier Jahren. Christl Wein ließ einen von Efeu überwucherten Panzer von der Decke schweben. Ihre uniformen T-Shirts und dunklen Stoffhosen waren Akzente gegen die kühle Monumentalität des Raums und die diesen durchschneidenden Klänge. Insgesamt haftete dem szenischen Geschehen auch rituelle Verspieltheit an.
Erstaunen statt Erschütterung
Schuberts „Lazarus“-Fragment gilt unter dessen weniger bekannten Werken als Juwel mit eindringlichen Schmerzenspfeilen aus langer, epischer Melodik. Die Aufführung setzt dagegen unruhige Bilder mit Bewegungen und gegen die räumliche Strenge rebellierenden Gruppenformationen. So übertrifft bei den meisten Besuchenden das Erstaunen über das Geschehen die innere Erregung oder gar Erschütterung.

Als blendende Performance erfüllt dieser „Lazarus“ alle Erwartungen, doch bei genauerer Anschauung zeigt sich eine denkwürdige Scheu vor der essenziellen Bedrängnis durch die aufgeworfenen Fragen. In der kühlen Aura des Ortes und unter dem trüben Himmel spürte man das Nahen des Totenmonats November.
Bayerische Theaterakademie August Everding im Bergson Kunstkraftwerk München
Franz Schubert/ Richard France: Lazarus oder die Feier der Auferstehung
Joachim Tschiedel (Leitung), Martina Veh (Regie), Christl Wein (Bühne & Kostüme), Alexander Strauch(Komposition), Fanny Karos, Annabell Strobel (Dramaturgie), Ramona Lehnert (Licht), Rusnė Tušlaitė (Maria), Lilian von der Nahmer (Martha), Alina Berit Göke (Jemina), Henrique Lencastre (Lazarus), Mose Lee (Nathanael), Juho Sten (Simon), Cosimo Scherrer, Ivo Borger, Laurens Gujber (Barrabas), Bergson Artists




