Womöglich liegt die größte Kunst – die tiefste Leidenschaft – nicht in der großen Geste, sondern in der kleinen Form. Der stärkste Ausdruck, die eleganteste Wendung gelingt oft dort, wo sich Musik in minimaler Zurückhaltung übt. Frédéric Chopins Klavierstücke etwa versetzen den Hörer binnen drei Minuten in jenen Zustand des An-der-Welt-Verzweifelns, zu dem eine ganze Oper mitunter nicht fähig ist. Auch Józef Kofflers „Wiegenlied Jesu“ aus den „Polnischen Volksgesängen“ op. 6 besitzt diese suggestive Kraft – eine Melancholie, die für sich steht: fragil und kompromisslos schön. Als Klaviersolo eröffnet dieses Lied das Musiktheater „Alles durch M. O. W.“ am Theater Freiburg – ein Abend, der sich dem Schaffen des in Lemberg wirkenden Komponisten Józef Koffler und seiner Zeit widmet.
Für den gesamten Abend wählte Regisseur Peter Carp das Kaffeehaus als Spiegelbild und Handlungsraum. Denn wie einst die Kulturen in Lemberg aufeinandertrafen, so begegneten sich zur Blütezeit der Kaffeehaustradition die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Figuren. Ob Literat, Possenreißer, Alltagsphilosoph oder Student.
Kaspar Zwimpfers Bühne entwirft dafür einen stimmigen Rahmen: beige Holzstühle, ein geometrisch gemusterter Teppich, dunkelgrüne Tapeten, mahagonifarbene Holzvertäfelung. Darüber ein raumgreifender Kronleuchter, der alles in gedämpftes Licht taucht. Eine Atmosphäre zwischen intellektuellem Glanz und verblasster Pracht.

In Bezug zu den Zeitgenossen
In der ersten Hälfte rezitieren Schauspieler des Freiburger Ensembles Lyrik von Debora Vogel, Kofflers Zeitgenossin, die in Lemberg mit jiddischer Dichtung um ihren literarischen Durchbruch rang. Viele der Poesien eint das Thema des Wartens – ohne zu wissen worauf – oder die Schwere des Aufbruchs. Beim ersten Hören herrscht eine ergraute Monotonie und ein starkes Resignieren vor.
Johannes Schöllhorn, Koffler-Experte und Professor in Freiburg, hat mit „Spur“ eine Paraphrase im Geiste Kofflers geschaffen. Sie umhüllt den theatralen Raum mit reibenden Streicherklängen: Zähflüssig, viskos, langsam zerlaufend.
Es folgen mit „Die Liebe I + IV“ op. 14 zwei Kunstlieder, deren staubige Patina wie aus einem Grammophon herübergeweht, an Webern oder Berg erinnern und viel über die ästhetische Farbestimmung des Schönberg-Schülers Koffler erzählen. Sopranistin Natasha Sallès, begleitet von einer Klezmerformation, gestaltet in ihnen mit intensivem Vibrato und niederschmetternder Präsenz – zwischen Bedrohung, Misstrauen und emotionaler Überwältigung – einen der wenigen ariosen Höhepunkte des Abends.

Skurrile Handlung
Das titelgebende Hauptstück „Alles durch M. O. W.“ entzieht sich jeder Gattungsnorm. Die operettenhafte, fast dadaistische Handlung von Alfred Rust kreist um das Korrespondenzbüro M. O. W., zu welchem sich kontaktfreudige Privatiers begeben, um in Gesellschaft zu kommen: ein resigniertes Ehepaar, das einen adretten Jüngling zur Belebung seiner Ehe anheuert; eine junge Frau auf der Suche nach dem gleichaltrigen Glück; ein US-Tycoon, enttäuscht von seiner Pariser „Montmartre-Schönheit“. Was „M. O. W.“ eigentlich ist und was „Alles durch“ bedeutet, bleibt ein musikhistorisches Rätsel.
Choroperette oder Musiktheater mit gesprochenen Dialogen
Musikalisch trägt vor allem der Chor das Geschehen. Er deklamiert Kontaktanzeigen, wird zur sprechenden Schreibmaschine, kommentiert die Szenerie der Verkupplungswilligen. Schöllhorns Orchestrierung des erhaltenen Klavierauszugs erinnert an Bergs „Wozzeck“, nimmt aber auch die Klangsprache von Viktor Ullmanns „Kaiser von Atlantis“ vorweg. Kofflers Harmonik wirkt, als hätten wohlgesetzte Akkorde einen Tritt ans Schienbein bekommen – sie kippt, sie schmerzt, ist kantig und pfeifend.
Ariose Strukturen gibt es denkbar wenige, Dialoge und Chorgesang dominieren. Vieles in „Alles durch M. O. W.“ orientiert sich an der zweiten Wiener Schule, an das entkräftende Reiben von Tonalität und Atonalität. Die leichten Rhythmen, darunter auch wilder Jazz und Spuren von Tango, instrumentiert Schöllhorn über ein großes Kammerorchester hinaus mit Akkordeon und Xylofon bunt aus, verleiht dem Klangbild jene stilistische Mehrdeutigkeit, durch die das Kaffeehaus gleichermaßen in Wien, Buenos Aires oder eben Lemberg verortet sein könnte.

Eine Nische im Repertoire
Trotz dünner Handlung überzeugt das etwas dahinplätschernde Stück durch seine skurrile, eigentümliche Stimmigkeit zwischen rekonstruiertem Klangbild und einem Bühnenraum, der zu beiden Hälften des Abends schlüssig trägt. Dirigentin Friederike Scheunchen, passionierte Pionierin des Neuen und der Moderne, bringt mit spürbarem Elan jeden letzten Funken Musik aus diesem Kleinod der 1930er Jahre hervor. Mit präzisen, schwungvollen Gesten und jugendlichem Elan wäscht sie den vergilbten Firnis weg. Von einem Stück, das in der heutigen Zeit über seine tragische Werkgenese hinaus – Koffler wurde 1944 von den Nazis ermordet – erst noch als neues Genre zu entdecken ist. Vielleicht muss man es in Zukunft im Verbund mit einem weiteren starken Einakter zeigen, um seine eigenwillige Qualität vollends zur Geltung bringen zu können.
Theater Freiburg
Koffler: Alles durch M. O. W.
Friedericke Scheunchen (Leitung), Peter Carp (Regie), Kaspar Zwimpfer (Bühne), Su Bühler (Kostüme), Diego Leetz (Licht-Design), Norbert Kleinschmidt (Chor), Natasha Sallès, Jakob Kunath, Henry Meyer, Charlotte Will, Martin Hohner, Laura Palacios, Yewon Kim, Antonio Denscheilmann, Opernchor des Theater Freiburg, Philharmonisches Orchester Freiburg
Termintipp
Fr., 04. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Koffler/Schöllhorn: Alles durch M. O. W.
Friederike Scheunchen (Leitung)
Termintipp
Do., 10. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Koffler/Schöllhorn: Alles durch M. O. W.
Friederike Scheunchen (Leitung)
Termintipp
Sa., 12. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Koffler/Schöllhorn: Alles durch M. O. W.
Friederike Scheunchen (Leitung)
Termintipp
Mi., 16. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Koffler/Schöllhorn: Alles durch M. O. W.
Friederike Scheunchen (Leitung)