Startseite » Oper » Erotische Burleske mit Herz

OPERN-KRITIK: STAATSTHEATER MEININGEN – DER BARBIER VON SEVILLA

Erotische Burleske mit Herz

(Meiningen, 21.10.2022) Mezzo-Legende Brigitte Fassbaender ist auch als Regisseurin längst eine Institution. Ihre Rossini-Deutung steckt voller gepfefferter Pointen.

vonRoland H. Dippel,

Wenn im nicht sonderlich Rossini-affinen Mitteldeutschland an einem Theater wie Meiningen nach genau sechs Jahren schon wieder „Il barbiere di Siviglia“ herauskommt, muss das besondere Gründe haben. Intendant Jens Neundorff von Enzberg hatte für die Neuproduktion die dem einzigen Staatstheater Thüringens seit lange verbundene Brigitte Fassbaender gelockt. Wie konnte es anders sein? Die Premiere endete im auf alle Mitwirkenden fast zu gleichmäßig verteilten Jubel. Bemerkenswert in diesen drei Stunden waren die oft abrupten Wechsel von Gründlichkeit ins Brio, aus feingeistigen Beobachtungen in gepfefferte Pointen und dazu immer wieder Momente, in denen Rossinis Belcanto zu emotionalem Realismus wurde.

Ansichtskarten-Spanien und starke Figuren

Bereits während der Ouvertüre tanzen die Postboten. So gab Brigitte Fassbaender den privaten, amtlichen und künstlerischen Dokumenten in der berühmtesten Opernadaption von Beaumarchais‘ Komödie „Le barbier de Séville“ auch theatrales und personelles Gewicht. Die zwölf Chorherren sind Charmebolzen durch und durch. Manuel Bethe verlieh ihnen auch musikalischen Schliff. Anstelle des Hauses von Doktor Bartolo gibt es diesmal keinen Frauentorso wie in der legendären „Barbier“-Inszenierung von Ruth Berghaus – dafür einen Schreibtisch aus Massivholz, aus dem die wunderbare Rosina, die sich am Ende einen Postboten angelnde Berta und Doktor Bartolo heraus spielen. Zu Beginn fehlte etwas: Denn gleich nach der Ouvertüre erklingen die Sirenentöne und „Tralalaleras“ des Faktotums Figaro. Die Flüster-Strophen der später als schmucke Ansichtskarten-Toreros erscheinenden Chorriege und das Gitarrenständchen des Grafen Almaviva für seine eingesperrte Geliebte wurden gestrichen. Noch zeigt Johannes Mooser nicht alles, was er draufhat und läuft dann bei den großen Duetten zur Bestform auf. Sein Figaro ist smart, agil und bringt eine berufsspezifische Bauernschläue ins Spiel.

Szenenbild aus „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen

Meiningen liefert eine exemplarische Fassbaender-Inszenierung mit bis in kleinste, unauffälligste Details entwickelten Situationen

Toxische Buhmänner gibt es in dieser Lesart nicht. Aber feine Spitzen. Der Musiklehrer Don Basilio entdeckt nach einer ohne strafende Konsequenzen abgewehrten Übergriffigkeit seine Sympathie zum Notar (Silvio Wild), während das Vaudeville-Finale die Liebe zum Antriebsmotor des Universums erklärt. Rosina hat, selbst wenn natürlich der Graf Almaviva in ihrem Herzen den ersten Platz besetzt, eine kleine Neigung zum Doktor Bartolo. Die Primadonna trägt auch Verantwortung für die Choreographie, welche Fassbaenders humane Präzision zum Schweben bringt.

Das spanische Kolorit steckt in Dietrich von Grebners Ausstattung wie in Rossinis im „Barbier“ besonders mediterran funkelnder Musik. Der musikalische Umgang mit Rossini ist typisch für ein größeres mitteleuropäisches Haus, an dem neuere editorische und wissenschaftliche Erkenntnisse zwar angekommen sind und beherzigt werden, das aber selbst noch keine spezifische Belcanto-Tradition hat. Erst zum ersten Finale vor der Pause macht der italienische Dirigent Jonathan Brandani seinen Frieden mit den Stolpersteinen der fälschlich als leicht kategorisierten Partitur. Stichwort Gründlichkeit: Das Geschehen kam auch deshalb etwas zögerlich in Gang, weil das Bemühen um legitimierte Spielmomente den Fluss der Rezitative mitunter stark bremste. Das wurde nach der Pause anders: Die Musikstunde gipfelt in einer erotischen Burleske, zu der die Stimmen mit den Körpern jubeln. Da hatte auch die auf Brahms und Neue Musik spezialisierte Meininger Hofkapelle immer größeren Spaß an Rossini.

Sara-Maria Saalmann und Johannes Mooser in „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen
Sara-Maria Saalmann und Johannes Mooser in „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen

Musikalisch-erotische Kristallisation

Die Besetzung kann sich bestens hören lassen. In Gewichtung nach den Voraussetzungen der Uraufführung anno 1816: Star im römischen Teatro Argentina war damals nicht der Sänger des Figaro, sondern der erste Almaviva Manuel Garcia. Für diesen komponierte Rossini ein im deutschen Sprachraum fast immer amputiertes Rondo finale. In Meiningen erklang es mit der genau richtigen Stimme. Rafael Helbig-Kostka ist ein subtiles Energiebündel bis in die von ihm mit multipler Ausdrucksfähigkeit eingesetzten Fingerspitzen. Denen stehen seine Koloraturen in nichts nach. Er outet sich als heller Tenorino mit virilen Kraftreserven, Rossinis Melodie-Ausschüttungen erklingen von ihm mit berückender Leichtigkeit. Und dazu hat Helbig-Kostka eine Rosina an seiner Seite, der nichts fremd ist außer fassadenhafte Koketterie. Sara-Maria Saalmann vereint das Charisma einer Carmen mit der Leichtigkeit einer Ballerina. Bisher vor allem im hohen lyrischen Fach glänzend, erobert sie sich erstmals Rossinis bevorzugte Lage im Mezzo-Register. Rosina klingt von Saalmann dadurch ernsthafter als gewohnt. Der fluide Wirbelwind wird zur Figur mit Tiefgang.

Das Paar Almaviva und Rosina, aber auch seine Helfer und Gegner sind so gut entwickelt, dass Johannes Mooser als Figaro vom Hauptdarsteller zur unverzichtbar besten Nebenrolle wird. Bei Tomasz Wijas nobler Gestaltung begeistert, wie kompromisslos er sich die Partie des Doktor Bartolo gegen das teutonische Polterklischee erobert. Gleiches gilt für Mikko Järviluoto als Basilio. Dessen Verleumdungsarie gerät zum Kabinettstück. Da sitzen die beiden Verschwörer fast bewegungslos nebeneinander, Järviluotos Stimme und die Streicher bersten vor melodischer Binnenspannung. Neunzig Minuten später erhält Monika Reinhard in der unterschätzten Arie Bertas viel genrespezifische Vokal-Ornamentik und Spitzentöne. Ein initiativer Umgang mit Belcanto-Grammatik, wie er sein sollte.

Sara-Maria Saalmann und Tomasz Wija in „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen
Sara-Maria Saalmann und Tomasz Wija in „Der Barbier von Sevilla“ am Staatstheater Meiningen

Rossini verführt

Die Reize des Meininger „Barbier von Sevilla“ liegen also an den Stellen, wo es emotional und physisch wird. Wie in der Musikstunden-Arie Almavivas und Rosinas. Deren sonst gestrichenes Duett-Crescedo ist, wenn das so toll gesungen wird wie von Sara-Maria Saalmann und Rafael-Helbig Kostka betreffend erotische Klangphysiologie einer der verräterischsten Momente im Oeuvre Rossinis.

Staatstheater Meiningen
Rossini: Der Barbier von Sevilla

Jonathan Brandani (Leitung), Brigitte Fassbaender (Regie), Dietrich von Grebmer (Bühne und Kostüme), Sara-Maria Saalmann (Choreografie), Manuel Bethe (Chor), Julia Terwald (Dramaturgie), Rafael Helbig-Kostka, Sara-Maria Saalmann, Johannes Mooser, Tomasz Wija, Mikko Järviluoto, Monika Reinhard, Herrenchor des Staatstheaters Meiningen, Statisterie des Staatstheaters Meiningen, Meininger Hofkapelle

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!