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TANZ-KRITIK: TANZ MODERNE TANZ | KULTURHAUPTSTADT 2025 CHEMNITZ – ODYSSEE IN C

Tanz-Abenteuer im urbanen Raum

(Chemnitz, 26.6.2025) Die Kulturhauptstadt 2025 verwandelt sich mit „Odyssee in C“ in eine Bühne für internationalen Tanz. Ballettdirektorin Sabrina Sadowska inszeniert mit überregionalen Kompanien ein bewegendes Stadtballett nach James Joyce.

vonRoland H. Dippel,

Der Widerhall als Kulturhauptstadt 2025 ist riesig und die Stimmung während des Festivals Tanz Moderne Tanz fulminant – auch über das gewaltige Tanzstück „Odyssee in C“ hinaus. Das KHS-Motto „See the Unseen“ für das „sächsische Manchester“ und die „Stadt der Moderne“ treibt üppige Blüten. Dieser Tage beschloss man den Bau eines neuen Schauspielhauses, der Grundsatzbeschluss zur dauerhaften Verortung und Finanzierung soll nach der Sommerpause vorliegen. Parallel stellte das Onlineportal immowelt in der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 das beste Preis-Leistungs-Verhältnis aller deutschen Großstädte für Wohneigentum fest.

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James Joyce vertanzt

Für diesen urbanen Abenteuerraum mit Lücken und scharfen Kontrasten präsentierte Ballettdirektorin Sabrina Sadowska, die sich mit Generalintendant Christoph Dittrich maßgeblich für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt eingesetzt hatte, im seit 2015 stattfindenden Festival TANZ | MODERNE | TANZ einen exemplarischen Höhepunkt. Das Publikum besucht selektiv oder im frei gestaltbaren Parcours für „Odyssee in C“ nach dem epochalen Roman „Ulysses“ von James Joyce kontrastreiche Orte mit Geschichte. Von morgens um 8.00 Uhr bis 23.00 Uhr reihen sich fast stündlich Beiträge internationaler Kompanien und des Ballett Chemnitz.

Der Eintritt ist mit Ausnahme des Finales im Opernhaus frei. Insgesamt viermal flutet dieses aufwändige Highlight von der Premiere am Donnerstag bis Sonntag durch Chemnitz. Alle Kompanien präsentierten beim Festival seit 18. Juni auch eigene Veranstaltungen. Der Krieg wirft allerdings lange Schatten. Die Gastspiele der israelischen Ensembles Adi Boutrous und Vertigo Dance Company konnten aufgrund von Reisebeschränkungen nicht stattfinden.

Szenenbild aus „Odyssee in C“
Szenenbild aus „Odyssee in C“

Publikumsmarathon

Für die Vormittagsstationen bis 11.00 Uhr hatte man sogar die Qual der Wahl zwischen zwei Events. Kulturreisende sind willkommen. Aber vor allem richtet sich „Odyssee in C“ an Einheimische, die innerhalb der vier Tage mehrere Gelegenheiten zum Aufsuchen der Stationen wahrnehmen können. Denn es ist so gut wie unmöglich, an einem einzigen Tag alle 18 Stationen dieses literarischen Stadt-Parcours zu erreichen. Dazu sind – egal ob Fußmarsch, Fahrrad oder Nahverkehr – die Wechselzeiten zwischen den maximal dreißigminütigen Tanzstücken zu knapp. Auch deshalb war die Anzahl der sich einfinden Fans und Flaneure an einem regulären Arbeitstag vor den sächsischen Sommerferien überwältigend.

In Chemnitz hängen nicht ganz so viele Regenbogen-Flaggen wie andernorts im Pride-Monat Juni und doch sind die Gäste der einzelnen Stationen voll bunt. Man merkt: Sabrina Sadowska hat in einem jahrelangen, hartnäckigen und freudigen Kampf Tanz mit sozialer Vernetzung zum Stadtgespräch gemacht. So findet sich auch an den vom Zentrum weiter entfernt gelegenen Stationen viel Publikum – von etwa 50 Personen an der Fleischerei Thiele auf dem östlich des Hauptbahnhofs gelegenen Sonneberg bis zu mehreren Hundert am berühmten Karl-Marx-Monument: Die Tanz-Episoden folgen genau von Joyce in „Ulysses“ aus Perspektive der Hauptfigur entwickelten Tagesablauf des 16. Juni 1904 in der irischen Hauptstadt Dublin.

Szenenbild aus „Odyssee in C“
Szenenbild aus „Odyssee in C“

Vier Chemnitzer Bloomsdays

Alle Kompanien hatten ihren Beitrag auf die zu ihren Stationen analogen Kapitel des Romans aus Perspektive des Anzeigenverkäufers Leopold Bloom konzentriert. Das bewirkte eine hohe Affinität zwischen Tanzraum, Tanzgeschehen und Themen. Das Konzept dieser vier Chemnitzer „Bloomsdays“ war ausreichend streng für die Struktur und angemessen frei für künstlerische Vielfalt. Durch Orte und Zeiten – nicht nur durch die Titel – taten sich überdies Assoziationen zur „Odyssee“ des Homer auf. Die abschließende Trias von Joyce‘ Kapiteln 16 bis 18 im Opernhaus mündet in einen ausdrucksstarken Pas de deux. Am Ende steht Edith Piafs Hymne „Non, je ne regrette rien“.

Nicht nur das auch im favorisierten Stadtbad auftretende Ballett Chemnitz, sondern auch alle anderen Ensembles agierten ab den Orten, als seien diese altvertraute Dekorationen. Zum Beispiel am von der sozialistischen Prestigemeile mit dem Bau des Geschäftszentrums am Roten Turm nach 1989 schnell abgesunkenen Brühl. Kinder plantschen in einem Brunnen. Mehrere Klassen der am Ort gelegenen Rosa-Luxemburg-Grundschule schauen in voller Aufstellung dem Auftritt „Irrfelsen“ von Le Plus Petit Cirque du Monde zu. Dieser gerät sehr artistisch – genau wie der Menschensäule von Cie Retouramont auf dem vor allem als Parkplatz genutzten Innenhofgelände des Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz (SMAC).

Szenenbild aus „Odyssee in C“
Szenenbild aus „Odyssee in C“

Von Fabriken bis Straßeninseln

Akrobatische Virtuosität zeigt auch die auf einem hängenden Lattennetz in einem engen Durchgang des historischen Fabrikareals Wirkbau agierende Kompanie Panama Pictures aus den Niederlanden. Inhaltliche Akzente sind wichtiger als Formelhaftigkeit und hybride Individualität. Leerstände, Hotspots, lost places und Grünflächen in Nähe historischer Idyllen werden von den zeitgenössischen Tanzformen mit bravouröser Energie okkupiert.

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Vor der Fleischerei Thiele entwickelt Nuepiko Dance Company aus Litauen auf dem Bürgersteig, einer Straßeninsel und Parklücken ein herzliches Genrebild wie aus einem französischen Filmlustspiel. Cie Samuel Mathieu zieht am Schlossfriedhof mit smartem Pathos eine imposante Mischung aus Interaktion, Pantomime und suggestivem Ritual. Unter üppiger Sommersonne streifte das Publikum dort eine numinose Schattenwelt zwischen Leben und „Hades“.

Aus dunklen Kostümen und wenigen Worten entsteht packende Energie. Von Regen-Unglück unterbrochen wurde leider das „Nausikaa“-Kapitel von Cie Act 2 – Catherine Dreyfus auf der Schlossteichinsel: Eine Frau und ein Mann sind in enger Körperlichkeit verhaftet. Das Duo durchlebt Synergie, Abstoßung, Verschmelzung nicht als Kampf, sondern zwangsläufigen Lebensstrom. Auch das wurde ein hochkonzentrierter und deshalb faszinierender Beitrag.

Szenenbild aus „Odyssee in C“
Szenenbild aus „Odyssee in C“

Tanz-Brennpunkt am Karl-Marx-Monument

„Kyklop“ am Karl-Marx-Monument gerät zu einem sportiven und dabei diabolisch dialektischen Statement gegen Rassismus. Vier Tänzerinnen und Tänzer der häufig soziale Konflikträume darstellenden Company Chameleon aus Manchester attackieren sich mit massiver Körperlichkeit. In zwanzig Minuten zeigt sich die Kausalspirale von Aggressionsakkumulation, Zuschreibungszündstoff, Gewalteskalation, Entsolidarisierung und herausbrechender Wut. Unter dem zu diesem Zeitpunkt strahlend blauen Himmel scheint der weiße Kopf von Karl Marx vor der abweisenden Gebäudefront wissend und zynisch zu lächeln.

Company Chameleon fokussiert an diesem Ort mit hochtouriger Virtuosität und Ausdruckskraft, was die Kulturhauptstadt Chemnitz in diesen Monaten bewegt und ausmacht. Brüche zu einer großbürgerlich-proletarischen Vergangenheit, die in den aberwitzig großzügigen und deshalb vielfältigen Raumdimensionen nebeneinanderstehen. Alles wirkt wie in gespannter Bereitschaft für nachhaltige Erschließung. Die an Herausforderungen reiche East Side Story ist nicht zu Ende, das Erinnerungs- und Raumpotenzial unerschöpflich: 36 Jahre nach der Wiedervereinigung wirken viele Spuren der Vergangenheit noch immer knackfrisch. Für TANZ | MODERNE | TANZ gibt es noch sehr viel Lokalstoff in den nächsten Jahren.

Tanz Moderne Tanz | Kulturhauptstadt Chemnitz
Sadowska: Odyssee in C.

Ein Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025. Tanz-Entdeckungsreise mit 18 Stationen nach Motiven aus „Ulysses“ von James Joyce / Künstlerische Gesamtleitung: Sabrina Sadowska

1 – Telemachos 8 Uhr (1) | Markersdorfer Oase | Cie Act 2 – Catherine Dreyfus (F)
2 – Nestor 10 Uhr (3) | Auf dem Gelände des Wirkbau | Panama Pictures (NL)
3 – Proteus 11 Uhr (5) | Uferstrand Chemnitz/Falkeplatz | L‘Acadco (JM)
4 – Kalypso 8 Uhr (2) | Fleischerei Thiele – Elke Seitz | Nuepiko Dance Company (LT)
5 – Lotophagen 10 Uhr (4) | Stadtbad Chemnitz | Ballett Chemnitz (D)
6 – Hades 11 Uhr (6) | Am Schlossfriedhof | Cie Samuel Mathieu (F)
7 – Äolus 12 Uhr | Auf dem Gelände SMAC – Freie Presse | Cie Retouramont (F)
8 – Laistrygonen 13 Uhr | Markthalle Chemnitz / Seeberplatz | Cie Ex Nihilo (F)
9 – Scylla und Charybdis 14 Uhr | Unibibliothek Chemnitz – Lesegarten | Schultanzprojekt mit Sabrina Sadowska


10 – Irrfelsen 15 Uhr | Brühl | Le Plus Petit Cirque du Monde (F)
11 – Sirenen 16 Uhr | Jakobikirchplatz | Cie Act 2 – Catherine Dreyfus (F)
12 – Kyklop 17 Uhr | Karl-Marx-Monument | Company Chameleon (GB)
13 – Nausikaa 19 Uhr | Schlossteichinsel | Cie Act 2 – Catherine Dreyfus (F)
14 – Die Rinder des Sonnengottes 20 Uhr | Schillerpark | Panama Pictures (NL)
15 – Circe ab 21 Uhr | Opernhaus – Foyer | Ballett Chemnitz & Company Chameleon
16./17./18.– Eumaeus – Ithaka – Penelope 22 Uhr | Opernhaus – Saal | Ballett Chemnitz & Company Chameleon




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