So richtig mit ihrem allseits hochgelobten „Kosmos Wagner“ als dramaturgischem Programmschwerpunkt hat die jüngste Premiere der Oper Dortmund zwar nichts zu tun. Eine respektable Kunstanstrengung ist aber auch dieses Paradebeispiel von Minimal Music geworden.
Amerikanisch groß gedachte Oper
Obwohl die Vereinigten Staaten in der Welt der Oper nicht zu den Supermächten gehören, sind Vertreter der amerikanischen Minimal Music wie Philip Glass, Steve Reich und eben John Adams (Jahrgang 1947) auch auf europäischen Bühnen präsent. Im Falle von Adams gehört neben „Doctor Atomic“ (2005) und „The Death of Klinghoffer“ (1991) vor allem sein Dreiakter „Nixon in China“ dazu. Seine Uraufführung erlebte er 1987 an der Houston Grand Opera. Der Aufwand, den die Oper Dortmund jetzt mit der Inszenierung von Martin G. Berger stemmte, erinnert tatsächlich an eine Grand opera. Das Haus ist groß genug dafür. Es auch entsprechend zu füllen, ist in Postcoronazeiten gleichwohl eine Leistung, die per se Respekt abnötigt.
Politischer Plot der jüngeren Vergangenheit
Dass Adams der Sprung über den Großen Teich immer wieder gelingt, ist den Qualitäten einer Musik, die spätromantischen europäischen Vorlieben zumindest nicht konträr entgegensteht, ebenso zu danken wie der Wahl seiner Stoffe. Mit ihnen weicht er eben nicht ins Ungefähre oder Mythologische aus. Um seine unendliche musikalische Geschichte fortzuschreiben, bevorzugt er dafür brisante, politische Plots der jüngeren Vergangenheit. Zumindest im Umfeld der Uraufführungen waren im Falle von „The Death of Klinghoffer“ die zugrundeliegende Entführung der Achille Lauro in der Erinnerung des Publikum noch genauso lebendig wie der historische Nixon-Besuch von 1972 in China bei der Uraufführung der Oper 15 Jahre danach.
Maos China zwischen Inquisition und den Ku-Klux-Klan
Dass das heute anders ist und von den historischen Vorbildern nur noch der bald einhundertjährige Henry Kissinger erwünschte (oder verfluchte) Ratschläge erteilt, aber in jedem Falle gehört wird, bedeutet für jede szenische Neuproduktion, dass sie auf weniger abrufbares Faktenwissen beim Publikum setzen kann als damals. Dank Internet lassen sich diverse kollektive Erinnerungslücken zwar schnell schließen. Aber ob sich das mulmige Gefühl von einst einstellt, das den Beobachter beschlich, als die Chinesen in aller Welt mit ihren roten Mao-Fibeln rumfuchtelten, ihren Verstand ausschalteten und öffentlich zum Abschuss freigegebenen Kadern jene Spitztüte aufsetzten, die an die Inquisition und den Ku-Klux-Klan erinnern, darf man bezweifeln.
Vielleicht beziehen sich ja die knallbunten Spitzhüte, mit denen die Choristen für eine Damenprogramm-Begegnung der First Lady in China auf der Bühne faschingsbunt ausgestattet sind, tatsächlich auf die historischen Vorgänge? Es war richtig von Nixon, mit seinem Besuch in China einfach der Realität Rechnung zu tragen. Wenn auch zunächst als große Ego-Show. Heute, ein halbes Jahrhundert später, kommt keine strategische Überlegung oder Aktion des Weißen Hauses mehr an China vorbei.
Wenn umstrittene Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zu Opernfiguren mutieren
Sich bei dem Versuch, umstrittene Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zu Opernfiguren zu machen, sich jenem „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ Goethes zu stellen, war schon für die Librettistin Alice Goodman eine Herausforderung – für jeden Regisseur ist sie es umso mehr. Auf der Ebene der Wiedererkennbarkeit leisten vor allem die Kostüme und Masken von Alexander Djurkov Hotter Erhellendes. Der vokal auftrumpfende Alfred Kim ist ohne Zweifel zumindest das sofort erkennbare Mao-Klischee. Er gibt den jovialen Herrscher, der lieber philosophieren, als verhandeln will und sich in der Umrahmung seiner drei Sekretärinnen gefällt.
Die später als störrische Rebellin abservierte Chian Ch’ing, die vor allem als prominenteres Gesicht der sogenannten Viererbande im Gedächtnis der Nachwelt geblieben ist, macht Hye Jung Lee zu einer intensiven Einpeitscherin des Mao-Kultes. Daegyun Jeong verkörpert als eher souveräner Premier Chou En-lai quasi schon die eher technokratische Nach-Mao Ära.
Ernüchterte imaginäre Zukunft
Petr Sokolov kommt in der Oper als Richard Nixon besser weg als der historische Präsident. Der hat sein Image spätestens mit der Watergate-Affäre selbst so lädiert, dass sein Zugehen auf China zu den wenigen positiven Erinnerungen an ihn zählt. Irina Simmes füllt die aufgewertete Rolle der First Lady mit würdigem Habitus aus. Zumal sie im Zentrum jener Szenen steht, in denen die Realität des Besuches samt der dabei präsentierten kulturellen „Schätze“ (von Fabrik bis zum Ballett „Das rote Frauenbataillon“) mit Visionen vor allem der realen Unterdrückung der Frauen, hier wie dort, verschwimmen. In dem entfesselten Chaos zwischen Realität und Wirklichkeit gewinnt auch die Musik durch deutliche Affekte (bis hin zu einer fabelhaften Sturmmusik) eine stärkere Wirkungskraft. Bis schließlich alles in einer ernüchterten imaginären Zukunft endet.
Olivia Lee-Gundermann legt mit den Dortmunder Philharmonikern an Präzision und Profilierung von Klangvarianten deutlich zu
Bei Martin G. Berger ist das Vergehen der Jahre nach dem Nixon-Besuch personifiziert. Durch eine zusätzlich eingeführte einfache Amerikanerin, die er „Ich“ nennt (Jemima Rose Dean). Und durch den Aufmarsch eines Panoptikums von Größen der Zeitgeschichte, die sich allesamt in einem Altenheim wiederfinden. Wenn nicht gerade Elisabeth II. und der Papst unter ihnen wären, könnte man das Ganze für einen Speisesaal halten, der zumindest nicht zum Himmel gehört. Theatralisch hat dieses Panoptikum einigen Witz.
Und die Damen und Herren des „Senior*innentanztheater“ – wie es im übereifrigen Dramaturgensprech offenbar genannt werden muss – sind mit Feuereifer dabei und eine Augenweide. Außerdem verhindern sie bei dem einen oder der anderen, dass der über drei Stunden vor sich hin repetierende Sound doch noch zum Wegnicken verführt. Dass das nicht passiert, liegt auch daran, dass Olivia Lee-Gundermann mit den Dortmunder Philharmonikern an Präzision und Profilierung von Klangvarianten nach der Pause deutlich zulegt und der Faszination, den diese Musik minimaler Abweichungen hat, auch eine Ebene purer Klang-Sinnlichkeit hinzufügt.
Am Ende: einhelliger Jubel für eine außergewöhnliche Kraftanstrengung!
Theater Dortmund
Adams: Nixon in China
Olivia Lee-Gundermann (Leitung), Martin G. Berger (Regie), Sarah-Katharina Karl (Bühne), Alexander Djurkov Hotter (Kostüme), Kevin Schröter (Licht), Vincent Stefan (Video), Gabriele Bruschi (Choreografie), Senior*innentanztheater: Mark Hoskins, Daniel Andrés Eberhard (Dramaturgie), Petr Sokolov, Irina Simmes, Alfred Kim, Hye Jung Lee, Daegyun Jeong, Morgan Moody, Dortmunder Philharmoniker