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Opern-Kritik: Theater Ulm – Cavalleria Rusticana/Pagliacci

Theater der Grausamkeit

(Ulm, 9.2.2023) Regisseur Christian von Götz erzählt Mascagnis Eifersuchtsdrama aus der Perspektive des italienischen Faschismus und entdeckt auch in Leoncavallos toxische männliche Gewalt. Das Sängerensemble geht rückhaltlos mit, GMD Felix Bender verklammert die Verismo-Zwillinge mit sattem Drive.

vonRoland H. Dippel,

Wer heute „Cav & Pag“ als Doppel auf den Spielplan setzt, kämpft gegen fast unveränderliche Sehgewohnheiten und vor allem gegen die fast animalische Sättigung durch die Musik. Am Theater Ulm kam das Verismo-Doppel jetzt in einer vor szenischer und musikalischer Energie explodierenden Lesart heraus. In Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ (Mailand 1892) setzt Christian von Götz einen subversiven Schlusspunkt.

Diese nachdenkliche Grausamkeit packt und hat es in sich. In Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ (Rom 1890) nach Giovanni Vergas Erzählung beleuchtete er das Eifersuchtsdrama aus der Perspektive des italienischen Faschismus mit dem Wissen der Nachgeborenen, dass Mascagni Mussolinis wichtigster Staatskomponist wurde und alle erforderlichen Eigenschaften für eine ideologische Nutzung seines umfangreichen Opernschaffens erfüllt hatte.

Maria Wester, Markus Francke und I Chiao in „Cavalleria Rusticana“
Maria Wester, Markus Francke und I Chiao in „Cavalleria Rusticana“

Weißes Theater, schwarze Triebe

Nach der Pause, am Beginn von „Der Bajazzo“, reißt Nedda das Papier mit den Parolen „Credere – Obbedire – Combattere“ (Glauben, gehorchen, kämpfen) herunter. Bis zur letztmöglichen Atemlosigkeit hält sie den Kopf unter das Wasser in der Badewanne, malt sich das Gesicht blutrot, läuft tropfnass über die Bühne. „Pagliacci“ ist Physical Theater pur. Die sonst eher derbe bis billige Commedia umgibt die Triebhaftigkeiten ihres künstlerischen Personals mit ästhetischem Schimmer – in Weiß. Der Clou bei der Sache: Bei Christian von Götz killt nicht der Prinzipal Canio aus chronischer Eifersucht seine Frau Nedda, sondern sie ihn. Doch erst, nachdem Canio ihrem Liebhaber Silvio den Schädel eingeschlagen hat. Jetzt, wenn Nedda die Männerbande loshat, ist sie frei.

Von Götz bleibt in Lukas Holls schwarzem Raum ganz nah dran an der Kulturströmung des Naturalismus vor 1900. Man glaubte nicht mehr an die dauerhafte Bändigung des Menschentieres durch Zivilisation und Gesellschaft. So wie der devote, hier unverkrüppelte Tonio die Beine Neddas liebkost und so, wie ihr Mann seine toxische Gewalt als fetischistisches Stimulanz auslebt, scheint der durch plumpe Spießigkeit gefährliche Faschismus in „Cavalleria rusticana“ davor als das kleinere Übel.

Maria Rosendorfsky in „Pagliacci“
Maria Rosendorfsky in „Pagliacci“

Sensible Ensemble-Leistung

Toll, wie die Darsteller das alles mitmachen: Allen voran die als Liebende und Mordende brillierende, hetzende, faszinierende Nedda von Maria Rosendorfsky. Die Duett-Szene mit Silvio (Oddur Jónsson mit virilem Kuschelbariton) steigert sich zur akrobatischen Manifestation von Zärtlichkeit im eiskalten Klima der Obsessionen. Milen Bozhkov in der Titelpartie singt das berühmte „Lache, Bajazzo“ mit schmetterndem Trauerflor, verliert danach in von Götz‘ den Mordspieß umdrehender Deutung seine Führungsrolle. Dae-Hee Shin gestaltet im Parkett den großen Prolog vom Herz, das in jedem Mimen schlägt, mit der gleichen Noblesse wie in „Cavalleria“ den Parteifunktionär Alfio. Takao Aoyagi macht agil vergessen, dass Beppe eigentlich das Schaf unter Wölfen ist. Bei allem szenischen Tumult gibt das der Musik viel Raum.

Sowohl der fulminante Chor (einstudiert von Nikolaus Henseler) wie das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm treffen den Nerv der Partituren. GMD Felix Bender verklammert die sich hetzende Überfülle von Leoncavallos Einfällen und das permanent sinnliche Fluidum, das sich dieser bei Massenet angeeignet hatte, zu sattem Drive. Ganz anders ist der Sound in „Cavalleria“: Bender drängt Mascagnis Blaskapellen-Tölpeleien, von anderen Dirigierenden oft schamhaft verdrängt, an die akustische Oberfläche. Er enttarnt die Milde von Mascagnis Choralsätzen und schwelgt in den Gesängen der Leidenschaft.

Maria Rosendorfsky und Milen Boshkov in „Pagliacci“
Maria Rosendorfsky und Milen Boshkov in „Pagliacci“

Jagdszenen aus Sizilien

Bipolarität total auch auf der Bühne: Am Beginn verspricht ein Genrebild mit Vöglein in der Luft und Eselchen im sizilianischen Gutshof die reinste Idylle. Doch hinter der Tür zur Straße marschieren die Faschisten. Bei von Götz schaut Turiddu aus wie der junge Pier Paolo Pasolini in seiner Zeit als Grundschullehrer in Friaul und später wie Marcello Mastroiani. Auch hier schwebt die Parole „Credere, obbedire, combattere“ (Glauben, gehorchen, kämpfen), die das ganze Gemeindeleben systemkonform zusammennietet.

Vor den Madonnen- und Heiligen-Statuen zum Osterspiel mit ihrem Lametta-Kitsch ballen toxische Muskelpakete ihre zuschlagbereiten Fäuste. Es wird nicht gekämpft, sondern Hälse geschlitzt. In diesem nach Maßstäben des Duce bestens funktionierenden Gemeindewesen ist Turiddu nicht nur Spielleiter für die Kirche. Schon als er ein Mussolini-Bild von der Wand reißt und beschmutzt, klafft hinter den Kerlen und den verhetzten Frauen das schwarze Raumloch.

Maryna Zubko, Dae-Hee Shin, Milen Boshkov und Joshua Spink in „Pagliacci“
Maryna Zubko, Dae-Hee Shin, Milen Boshkov und Joshua Spink in „Pagliacci“

Ekstatische Rachetrümpfe und emotionales Verlöschen

Ohne Mascagnis kolportagehaftes Kompositionsverfahren aufzuhübschen, wurde edel und ohne Verführungen zum Schreien üppig ausgesungen. Nach leicht schmächtigem Einstieg in der Romanze gibt Markus Francke den Intellektuellen Turiddu in barbarisierter Umgebung vielschichtig und mit tenoraler Wärme. Hinter den Brillengläsern und der Stirn brennt es bei ihm wie im Unterleib. Ebenbürtig: I-Chiao Shih als Santuzza mit großen Augen, großen Gesten und nicht minder großen wie schwelgenden Tönen. Ihre roten Strümpfe weisen sie als in den Schoß der Kirche zurückkehrenden Kommunistin aus: Ekstatischen Rachetrümpfen folgt am Ende das emotionale Verlöschen.

Nadine Secunde bleibt als Mamma Lucia in dieser physischen Hölle eine dezente Beobachterin und auch stimmlich unauffällig. Maria Wester gibt eine sinnen- und stimmstarke Lola. Es sind die diskussionswürdigen Eigenwilligkeiten und der rückhaltlose Einsatz des Ensembles, welche die packenden Spannungsspitzen dieser Premiere ausmachen. Langer strahlender Jubel.

Theater Ulm
Mascagni: Cavalleria Rusticana
Leoncavallo: Pagliacci

Felix Bender (Leitung), Christian von Götz (Regie), Lukas Noll (Bühne & Kostüme), Kai Pflüger (Licht), Nikolaus Henseler (Choreinstudierung), Benjamin Künzel (Dramaturgie), I-Chiao Shih, Markus Francke, Nadine Secunde, Dae-Hee Shin, Maria Wester, Milen Bozhkov, Maria Rosendorfsky, Maryna Zubko, Dae-Hee Shin, Takao Aoyagi, Oddur Jónsson, Young-JunHa, Mykhailo Hnatiuk, Ulmer Spatzen (Leitung: Hans de Gilde), Opern- und Extrachor des Theaters Ulm, Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm

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