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Porträt Midori

Das gereifte Wunderkind

Mit Anfang 20 überkam midori eine tiefe Sinnkrise. Ihrer Karriere als Stargeigerin tat das keinen Abbruch

vonHeiner Milberg,

Sie war eines der berühmtesten Wunderkinder der Klassik. Geboren 1971 im japanischen Osaka, wurde sie mit zehn Jahren Schülerin der legendären Dorothy DeLay an der Juilliard School in New York, debütierte mit elf mit dem New York Philharmonic und begann 1982 ihre Profikarriere. Mit 20 hatte sie mit Bernstein und Abbado, Barenboim und Boulez, Isaac Stern und Yo-Yo Ma gespielt, hatte mit den Berliner Philharmonikern die Bartók-Violinkonzerte aufgenommen und mit dem London Symphony Orchestra ein Paganini-Konzert – und war einer der größten Klassik-Stars auf unserem Planeten.

Psychologiestudium als Ausweg aus der Sinnkrise

Dann, mit Anfang 20, kam die Sinnkrise. Midori Goto, die sich nur Midori nennt, verfiel in Depressionen, sagte alle Konzerte ab und begab sich in klinische Behandlung. Wieder genesen, ging die Karriere scheinbar ungebrochen weiter, doch hatte sich ihr Blick geweitet. Sie begann Psychologie zu studieren und gründete Non-Profit-Organisationen, die Schülern klassische Musik näherbringen und Alternativen zum normalen Konzertbetrieb entwickeln. Sie begann zu unterrichten und schrieb mit 30 ein Buch, in dem sie offen über ihre Krise berichtet.

Seither sind über zehn Jahre vergangen. Nach dem Master 2005 legte sie die Psychologie wieder beiseite. Sie ist von New York nach Los Angeles gezogen, wo sie als Professorin an der University of Southern California unterrichtet, hat ihr Buch um ein Kapitel über die letzten Jahre erweitert  und fliegt noch immer rastlos um die Welt, von Konzert zu Konzert. Mal in Tokio und New York, mal in Kempten und Marburg. 

Als wir uns vor einem ihrer Konzerte trafen, blieb zwischen Probe und Konzertvorbereitung wenig Zeit für ein Gespräch. Aber sicherlich hatte sie nicht nur deshalb vorher meine Fragen haben wollen – deren Antworten sie mir dann gleich auf Papier in die Hand drückte. Freundlich und offen begnügte sie sich im Gespräch mit knappen Antworten auf weitere Fragen. Zur Routine sei das Musikerleben auch in 30 Jahren nicht geworden, immer passiere Neues, immer gebe es neue Projekte zu entwickeln und zu organisieren.

„Musik ist so sehr ein Teil von mir geworden, dass ich sie nicht aufgeben könnte. Ich liebe die Musik, ich liebe diesen Prozess, Stücke zu erarbeiten, mich vorzubereiten, zu proben. Und ich gebe gern Konzerte. Aber an Konzerte denke ich nur, wenn ich welche vor mir habe. Was mich jeden Tag beschäftigt, sind der Unterricht und das Üben.“ Per Mail und Skype ist Midori täglich mit ihren Schülern verbunden, entwickelt neue Projekte, organisiert – nicht von ungefähr hat sie gleich die Leitung der Streicherabteilung ihrer Uni übernommen.

Konzerte als fordernde Klangabenteuer für die Ohren

Von der Welt sieht sie während ihrer Reisen nicht viel – sie bleibt so kurz wie nur möglich unterwegs. So kommt es vor, dass sie in sechs Tagen fünf Konzerte in vier Bundesländern gab, am Morgen nach dem letzten Konzert musste sie um vier Uhr aus dem Bett, damit sie um acht den Flug nach Los Angeles bekam, wo sie – die Zeitverschiebung machts möglich – am Abend wieder unterrichten wollte! Kammermusik und Sonatenabende spielen eine große Rolle in Midoris Konzertkalender, ihr bevorzugter Klavierpartner ist seit mehreren Jahren der in den USA geborene Wahl-Berliner Özgür Aydin. Den Kern ihres Repertoires bildet die Romantik, doch spielt sie immer wieder gern Modernes und Zeitgenössisches. „Ich mag es, Konzertprogramme aus Kontrastwirkungen aufzubauen, ein Klangabenteuer zu schaffen, das für die Ohren angenehm ist, sie aber auch herausfordert.“ Wozu für Midori eben auch immer wieder Neue Musik gehört: „Da gibt es phantastische Klänge, die uns weit wegführen von dem, wie wir normalerweise spielen. Da eröffnet sich eine ganz eigene Welt.“ Und auf einmal beginnen ihre Augen zu leuchten, und ihr Gegenüber merkt, dass die zarte Geigerin nichts von ihrer Begeisterung für die Musik verloren hat.

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