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Digitalisierung: Chorproben in Zeiten von Corona

Digitale Chorprobe

In Zeiten von Corona suchen Chöre nach alternativen Probemöglichkeiten. Wie so häufig in der Krise führt der Weg ins Internet.

vonSusanne Bánhidai,

Keine Sitzordnung, kein Gottesdienstsingen, kein Bier nach der Probe: Die Kontaktsperren aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus treffen auch die Laienchorszene hart. Für über eine Millionen Menschen in Deutschland bedeutet die wöchentliche Probe im Gemeindesaal oder in der Schulaula mehr als nur gemeinsames Musizieren: Man studiert anspruchsvolle musikalische Literatur ein, gibt Konzerte – und pflegt vor allem ein Hobby mit starkem sozialem Kitt. Darauf verzichten mehr als 15.000 deutsche Singvereinigungen nun seit Wochen. Schon früh hatte man gerade Chören empfohlen, wegen der Ausbreitung des Virus nicht zusammenzukommen. Beim gemeinsamen Singen ist die Ansteckung durch Tröpfcheninfektion besonders hoch. Anfang April wurde bekannt, dass es in einer großen Berliner Kantorei bei einer Probe, die noch vor dieser Warnung im März stattfand, zu einer Vielzahl von Ansteckungen und Covid-19-Erkrankungen kam.

Früher reagieren konnte das ensemberlino vocale. Noch vor der Generalprobe ihres Konzertes im März entschied sich die Gruppe für eine Absage. Statt in Schockstarre zu verfallen lud Chorleiter Matthias Stoffels zwei Tage später zur Videokonferenz. Fast alle der rund dreißig Mitglieder klinkten sich ein. Die Anzahl der Teilnehmenden spielt bei so einem Treffen übrigens keine Rolle: Der Kölner Männer-Gesang-Verein trommelt jeden Donnerstag etwa 180 Choristen virtuell zusammen.

Digitale Chorprobe um Zeit ohne »richtige« Probe zu überbrücken

Was nicht geht, ist zusammen zu singen. Die technischen Möglichkeiten, die momentan zur Verfügung stehen, lassen genau das nicht zu. Durch die sogenannte Pegelwaage werden automatisch die leiseren Teilnehmer in den Hintergrund gedrängt, außerdem führt die Latenzzeit dazu, dass die Stimmen nicht synchron erklingen. Aber wie füllt man eine digitale Chorprobe, wenn das „Zusammensingen“ ausfällt? Matthias Stoffels will erst gar nicht eine normale Chorprobe imitieren, sondern sucht nach Wegen, die Zeit ohne „richtige“ Proben zu überbrücken – einerseits, um neues Repertoire zu erarbeiten, andererseits, um den Chor zusammenzuhalten. „Es war schön, euch zu treffen“ lautete dann auch ein erstes Feedback, das Almut Stümke, Leiterin des Mendelssohnchores in Hamburg, aus ihren Sängerreihen erhielt. Auch ihr ist klar, dass die digitale Chorprobe ein schlechter Ersatz ist, denn „die Schwingung im Raum ist durch nichts zu ersetzen“.

Rhythmische Präzision, Hören der anderen Stimmen, homogener Klang – das alles muss jetzt in den Hintergrund treten. Was zu kurz kommt, ist die Musik! Aber besser als wochenlang gar nicht zu singen, denn die an der Stimme beteiligten Muskeln müssen weiterhin trainiert werden. Daher starten die virtuellen Chorproben mit intensiviertem Einsingprogramm bei ausgeschalteten Mikrofonen, was ein bisschen an Fernseh-Gymnastik erinnert. Auch wenn einige Sängerinnen und Sänger die mangelnden Datenschutzauflagen fürchten, ihre Rechner die Programme nicht unterstützen oder sie zu Hause schlicht nicht singen können („weil mein Nachbar dann gegen die Wand haut“), ist für viele wichtig, dass es weitergeht. Von Untergangsstimmung ist bei Stümke, die auch das Eppendorfer Vokalensemble leitet, keine Spur. Sie betont die positiven Seiten der Situation: „Es ist gut, dass sich die Leute mal selber hören oder ungeniert den Bauch locker lassen. Oder ich gehe ganz nah an die Kamera heran und zeige, was die Zunge machen soll. Ich arbeite viel mit Phrasierung und verwende mehr Zeit für die musikhistorische Einordnung der Stücke. Ich hole raus, was geht.“

Das ensemberlino vocale beim Einsingen
Das ensemberlino vocale beim Einsingen

Und was auf jeden Fall geht, ist geselliges Zusammensein – auch mit schlechter Bildqualität. „Nach der Probe nehmen wir die Laptops mit aufs Sofa und prosten uns zu.“ Diese Komponente ist auch für Chorsänger Jan-Henning Korte ein großer Schatz. Im ensemberlino vocale nimmt man sich dafür jetzt besonders viel Zeit. Eine ganze Stunde von 2,5 Stunden Probenzeit ist für ein „Chat-In“ vorgesehen, bei dem jedes Chormitglied eine Minute lang ein Feedback abgibt. Das habe auch die Kommunikationsstrukturen im Sozialgefüge des Chores positiv verändert.

Matthias Stoffels, der sich als Professor für Chor- und Orchesterleitung an der Hochschule München auch mit digitaler Lehre auseinandersetzt, hat mit seinem Vokalensemble zum dramaturgisch ausgetüftelten Digital-Marathon angesetzt. Am Anfang sollte alles so einfach wie möglich sein, damit niemand aus technischen Gründen unterwegs verloren geht. In der ersten Probe nach der Konzertabsage wurden Noten via Dropbox zur Verfügung gestellt. Es folgten Sound-Files für die Aussprache der fremdsprachigen Texte, Übersetzungen und Einführungsmaterial. Mit MIDI- und XML-Files können die Sängerinnen und Sänger interaktiv mit ihrem Computer arbeiten. In den Proben wird an der Interpretation gefeilt, werden Absprachen getroffen und gemeinsam Zeichen eingetragen. „Das hätte man auch irgendwann machen können, aber es fällt leichter, wenn man weiß, dass die anderen zeitgleich dasselbe tun“. In der vierten Probe präsentierte Stoffels die eingesammelten „Hausaufgaben“, nämlich die einzeln eingesungenen Stimmen als Zusammenschnitt. Trotz der bescheidenen Qualität war es ein emotionales Highlight, sich wieder als vielstimmige Einheit zu hören.

Für Chorleiter sind diese Probenvorbereitungen noch intensiver, denn auch sie betreten Neuland. Außerdem existiert noch keine Software, die den speziellen Anforderungen einer virtuellen Chorprobe gerecht wird. Doch Hoffnung naht: Julian Klein vom Institut für künstlerische Forschung Berlin hat das Projekt „Digital Stage“ angestoßen. Etwa sechzig Programmierer und Aktive aus dem Kulturbereich arbeiten – überwiegend ehrenamtlich – an einer Onlineplattform, auf der man ohne Zeitverzögerung proben kann. Als ersten Schritt versuchen sie, die Finanzierung auf die Beine zu stellen. Zunächst werden davon vermutlich Hochschulen profitieren, später auch Laienchöre. Dann wird aus dem „Besser als nichts“ vielleicht bald ein „Besser als Jetzt“.

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