Startseite » Interviews » Blind gehört » „Es geht um echte Liebe“

Blind gehört Pablo Heras-Casado

„Es geht um echte Liebe“

Der Dirigent Pablo Heras-Casado hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonKatherina Knees,

Der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado fühlt sich in der Opernwelt genauso zu Hause wie in der konzertanten Alten Musik oder in zeitgenössischen Werken. Ein perfekter „Blind gehört“-Kandidat also. Wir erwischen ihn nach einem Konzert in der Kölner Philharmonie mit dem Freiburger Barockorchester. Er trinkt Espresso und ist lebhaft bei der Sache: singt mit, gestikuliert und hört sehr aufmerksam zu. „Ich könnte das noch stundenlang machen“, sagt er zwischendurch lachend. „Und nächstes Mal machen wir es andersrum, dann suche ich aus!“ 

Händel: Messiah

Academy of Ancient Music, Christopher Hogwood (Leitung)
2005. Decca

Daraus: Ouvertüre

Ich mag das Tempo sehr, es ist sehr geradeaus. Es ist natürlich ein Ensemble mit historischen Instrumenten. Es ist bestimmt, es ist nicht verschnörkelt. Der Schwung ist (gestikuliert) … überraschend. Das Tempo ist auch sehr gemäßigt, das kennt man auch viel schneller. Es ist sehr elegant und schön gestaltet. Man kann die Intention verstehen. Er … oder sie … benutzt nicht zu viele Verzierungen. Ich finde es nicht schlecht, wenn man in einer Ouvertüre das ganze Feuerwerk fühlen kann, aber es ist ein langes Stück. Und deshalb ist es gut, auf eine zurückhaltende Art zu beginnen, das ist sehr schön. (pfeift den Schluss mit) Ich war mir sicher, dass er oder sie auf diese Art enden würde. Manchmal wird das sehr (singt) groß gemacht, aber das ist sehr ehrlich. Er versucht nicht, von Anfang an ein großes Statement zu machen. Es ist überraschend. Ich glaube nicht, dass ich diese Version schon einmal gehört habe. Oh, es ist Hogwood? Schön! Und Academy of Ancient Music? Aha.

Donizetti: L’elisir d’amore

Luciano Pavarotti (Tenor), English Chamber Orchestra, Richard Bonynge. 1985. Decca

Daraus: „Adina credimi“

(hört lange zu und schmunzelt) Luciano! Das ist eine herrliche Stimme! (hört wieder lange zu) Ich liebe das! Ich habe eine persönliche Geschichte mit diesem Stück, denn es ist die erste Belcanto-Oper, die ich dirigiert habe. Dieser Moment ist theatralisch so intensiv und schön, musikalisch ist es, wenn du nur die Musik und die Melodie nimmst, so perfekt. Es ist so intensiv und gleichzeitig auch so ernsthaft. Es ist nicht nur billige Gefühlsduselei. Er bittet sie: „Bitte warte nur noch einen Tag!“ Er denkt, der Zaubertrank wird einen Effekt haben. Dieser einfache Mann hat nichts anderes zu bieten. Es geht um echte Liebe.

 

Stockhausen: Gruppen für drei Orchester

Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado (Leitung) u.a.
2012. Deutsche Grammophon

Daraus: Werk Nr. 6

  

Gruppen. (hört zu und flüstert) Ahh, diese Musik ist unglaublich. Seitdem ich das dirigiert habe, hab ich die Musik nicht mehr gehört. Und wenn man das dirigiert, glauben Sie mir, das ist wie eine große Maschine, die man kontrollieren muss. Es ist eines der intensivsten Erlebnisse, die man als Dirigent haben kann. Das Orchester zu dirigieren, aber die Augen und Ohren und Hände noch bei zwei anderen Orchestern zu haben. Und man muss von dem, was man selber will, ein klares Bild haben und sich selbst unter Kontrolle haben, auf eine sehr intellektuelle Weise. Die Tempobezüge, die Tempi an sich – und gleichzeitig muss man flexibel sein. Aber jetzt, wo ich die Partitur nicht habe und das nicht kontrollieren muss, kann ich hören, wie das fließt, und das wahnsinnige Universum der Klänge hören, die da drin sind. Es sind nicht nur Abschnitte und Tempobezüge und metronomische Markierungen, sondern es fließt. Es ist sehr organisch. (hört lange zu) Das ist eine gute Aufnahme. Es klingt sehr überzeugend. Es ist sehr flüssig, die ganzen Interaktionen zwischen den Orchestern, die Farben, es ist nicht hart. Man hat das Gefühl, dass die Musiker an das glauben, was sie da spielen.

 

Bizet: Carmen

Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle (Leitung)
2012. Warner Classics

Daraus: Prélude

(Lacht laut heraus) Wow! Was für ein Kontrast. Das ist jetzt schockierend nach Gruppen. (lacht) Das ist sehr konventionell. Hm, es ist gut, dass er das Tempo hält, manchmal wird es bei dem Torero-Thema viel langsamer, das sollte nicht so sein, denke ich. Und nicht zu dramatisch, es ist nur eine Ouvertüre, die ein paar Dinge präsentiert. Und dann geht es weiter. Hübsch. Hm, keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte. Ich kenne nicht so viele Versionen dieser Oper. Ah, das war Rattle mit den Berliner Philharmonikern? Ich verspreche Ihnen, das wollte ich gerade sagen, wirklich! (lacht) Ich weiß, dass er es kürzlich aufgenommen hat und er hält nichts von Klischees. Ich mag es.

Beethoven: Sinfonie Nr. 9

Stockholm Concert Association, Wilhelm Furtwängler (Leitung). 2011. Music and Arts Programs of America

Daraus: 4. Satz

Wow. Er startet in einem sehr konservativen Tempo, sehr langsam, aber jetzt wird es schneller und schneller. Jetzt geht es nach vorne. Ich habe die Version noch nie gehört. Jetzt hat er das Tempo. Aber der Anfang bis zum ersten Forte fühlt sich an wie eine Vorbereitung. Jetzt reitet das Pferd los. Am Anfang fühlt es sich an, als würde er es noch halten wollen. Und das crescendo bewegt sich dann ins Tempo. Es ist nicht perfekt zusammen. (schmunzelt) Jetzt gibt es wieder ein accelerando. Ich hab so etwas noch nie gehört. Das ist ein Arrangement, das ist nicht original. Diese Hornstimmen hier, die wurden umgeschrieben von der originalen Beethoven-Version, damit die Hörner die Holzbläser doppeln können. (singt) Das ist nicht original. Das wurde in alten Zeiten so gemacht, vor allem bei Beethoven. Es ist sehr gut kontrastiert. Die Pianopassagen sind immer noch sehr gut artikuliert. Es sollte eigentlich in diesem Satz ein moto perpetuo sein, aber hier verändert sich das Tempo dauernd, das ist sehr ungewöhnlich. Ich weiß nicht, wer das ist. Aber es ist offensichtlich eine alte Aufnahme und auch ein altes Konzept.

Mendelssohn: Hebriden-Ouvertüre

London Symphony Orchestra, Claudio Abbado (Leitung)
1988. Deutsche Grammophon

Das ist wunderwunderschön. Es ist so lyrisch, und die Melodie fließt mit den Wellen der Celli und Bratschen. Es ist nicht hart und es hat einen dichten Klang, viele Farben – aber es wirkt nicht schwer. Das Tempo ist sehr ruhig. Die Phrasierungen sind sehr schön. Ist das Giulini? Oh, das ist wunderschön: Man kann die Violinen schimmern hören. Wie der Dunst in der Luft. Ich habe schon viele Versionen dieser Ouvertüre gehört, aber ich glaube nicht, dass ich diese Aufnahme kenne. Dieses più mosso steht nicht in der Partitur … Wer kann das sein? Abbado??? Ahhhh! (ärgert sich spaßhaft, dass er es nicht erraten hat) Ach, das überrascht mich aber nicht. (lacht) Es ist wirklich sehr gut!

Bruch: Violinkonzert Nr. 1

Janine Jansen (Violine), Gewandhausorchester Leipzig, Kurt Masur (Leitung). 2007. Decca

Daraus: 2. Satz

Was für ein wunderschöner Klang! Er ist so warm und samtig. Das ist Bruch, das habe ich vor vier Jahren gemacht. (singt) Ich mag das Tempo sehr, ich mag es, wie die Musik fließt. Dieser Moment ist so schön, diese Modulation. Ist das Janine Jansen? Jaaaaa! Ich bin nicht so gut im Raten, vor allem bei Streichern. Aber Janines Klang kenne ich sehr gut. Ich war neulich mit ihr auf Tour mit Szymanowski. Schön!

Mozart: Die Zauberflöte

Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer (Leitung) u.a. 1964/2000. EMI Classics

Daraus: 2. Akt „Pa-pa-gena! Pa-pa-geno!“ 

(Hört sehr lange zu) Ich mag das sehr. Man kann in den Stimmen das dramatische Moment hören. Es ist in den Stimmen, „Pa, Pa…“ (ahmt es nach), sie kommen nicht raus, bis sie schließlich „Papageno“ und „Papagena“ sagen und sie die Melodie singen. Und was ich auch liebe – man könnte annehmen, das sollte immer so sein, aber es ist nicht immer so: In der schönen Stimme bekommt man den ganzen Text mit. Es klingt, aber man kann alles verstehen, auch die Möglichkeiten des Ausdrucks, die in der Stimme stecken. Wie bei einem Schauspieler, die Farben der Konsonanten, die das dramatische Moment ausmachen. So dass man es versteht, worum es gefühlsmäßig geht, auch wenn man die Melodie mal beiseite lässt. Und das ist so wichtig! Das ist vermutlich keine Aufnahme der letzten zwanzig Jahre und stilistisch ist es nicht der Mozart, so wie ich es machen würde, aber es ist sehr überzeugend, weil man hören kann, dass Musik und Theater Hand in Hand gehen. Ahh, es ist Klemperer. Von Anfang an hört man, dass es charmant ist und (singt eine Phrase) … es ist sehr direkt, sehr spielerisch. Es geht nicht darum, den schönsten Klang zu haben, sondern es geht um das Theater.

Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Jan Latham-Koenig (Leitung)

1994. Capriccio

Daraus: 1. Akt „Hallo, wir müssen weiter!“

Ahhh, Mahagonny! (lächelt und hört lange zu) Ich finde, das ist einfach großartige Musik. So modern und so kraftvoll. Das ist herzlose und seelenlose Musik. (singt mit) Ich liebe diesen Wechsel. Es ist gnadenlos. Nach diesem fugato, alles ist marcato, alles ist forte. Und dann plötzlich ist da dieses Fagott und das Banjo, die dieselbe Musik spielen, scherzohaft. Das ist nicht einfach, der Stil von Kurt Weills Musik, das ist so besonders und speziell. Ich finde, das ist eine sehr gute Version. Ich mag die deutsche Variante auch viel lieber. Ich habe es mal auf englisch gemacht. Aber ich mag das hier so … (ahmt den Tonfall nach) „Geht es nicht weiter“ … die englische Version wurde zwar auch von Kurt Weill abgesegnet, aber die deutsche Sprache passt viel besser zur Musik. Ich weiß nicht, wer das ist. Die Sänger müssen auch tolle Schauspieler sein mit ihren Stimmen.

C.P.E. Bach: Sinfonie Nr. 3 Wq 182/3

Freiburger Barockorchester, Thomas Hengelbrook (Leitung). 2011. deutsche harmonia mundi


(hört lange zu)
Ist das C.P.E. Bach? Ich mag sehr diese Komponisten der Übergangszeiten, wenn die Stile sich vermischen und sich in etwas Neues verwandeln. Und der neue Stil ist noch nicht völlig installiert. Man spürt, dass er etwas Neues finden will. Es hat noch barocke Standards, aber dann kommt dieser Stopp. Und dann weiß man nicht, wo es hingeht. Es ist einfach, es ist elegant, es ist direkt. Ist das Concerto Köln? Nein? (lacht) Freiburger Barockorchester? (lacht – spricht dann mit übertriebener Überzeugung und Augenzwinkern) Den Klang kenne ich doch! Natürlich! Kein Zweifel! Freiburger Barockorchester (lacht) … Ich liebe es!! Sagen Sie denen nicht, dass ich dachte, es wäre Concerto Köln. (lacht).

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!