Seit 2002 ist Sir Simon Rattle sechster Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Zuvor hatte der gebürtige Liverpooler, den die Queen 1994 in den Adelsstand erhob, 18 Jahre lang das City of Birmingham Symphony Orchestra geleitet.
Sir Simon, sind die Berliner Philharmoniker das beste Orchester der Welt?
Ich finde es wunderbar, dass es in der Musik nicht wie bei den Olympischen Spielen oder im Snooker zugeht, wo man beweisen kann, wer der Beste ist. Aber natürlich ist es für mich das großartigste Orchester der Welt – es ist meine Familie.
Was macht die besondere Qualität aus?
Jedes Orchester hat seine eigene Qualität, und jedes große Orchester macht aus der Musik etwas ganz Besonderes. Gott sei Dank, sonst wären wir in einer Starbucks-Welt, wo man überall haargenau dasselbe bekommt. Die Philharmoniker sind so eine Gruppe von Individualisten und von starken Persönlichkeiten – das ist das, was man sich wünscht. Sie sind immer sehr persönlich, sehr „picante“ und manchmal so feurig, dass man Angst haben muss, die Handflächen fangen Feuer, wenn man ihnen zu nahe kommt.
Alan Gilbert, der Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, sagt: Brahms soll wie Brahms klingen und Beethoven wie Beethoven. Dass ein Orchester einen spezifischen Klang hat, sei gar nicht sein Ideal.
Das sehe ich anders. Es war zu den Hochzeiten der Plattenindustrie, dass die Orchester begannen, gleich zu klingen. Damals sollte ein Werk so und nicht anders klingen, es gab nur einen Weg, wie man etwas richtig spielt. Und da kam auch die Idee auf, ein Orchester könne „das Beste“ sein. Vor hundert Jahren klangen die Orchester in jeder Stadt ganz unterschiedlich, die hatten einander ja nie gehört. Und das ist etwas, was man bewahren sollte. Ich habe oft dasselbe Stück mit verschiedenen Orchestern gespielt, mit demselben Notenmaterial, mit denselben Bogenstrichen, und doch klang es völlig anders. Ich liebe das. Denn es gibt viele Wege, wie man etwas ausdrücken kann.
Wie sehr beeinflusst ein Dirigent den Klang? Und hatten Sie, als Sie hier anfingen, ein Ideal, wie das Orchester nach fünf oder zehn Jahren klingen sollte?
Der Klang ist, wie er sein sollte. Ich koche gern, und so würde ich sagen, er hat eine Funghi-Porcini-Qualität – mit einer guten Dosis Chili drin. Es ist keine Schonkost, aber der Klang ist nicht unbedingt dick, er kann sehr transparent sein. Natürlich darf man einen Komponisten nicht ins Prokrustesbett zwingen, da stimme ich mit Alan überein. Aber ich habe auch das Gefühl, dass das Orchester immer stärker daran interessiert ist, verschiedene Klangvorstellungen für verschiedene Komponisten zu realisieren. Wir haben zwanzig verschiedene Nationalitäten im Orchester, und doch ist es immer noch ein deutsches Orchester. Warum Orchester einen solchen Effekt auf die Musiker haben, ist ein Mysterium. Das geht über eine Art Osmose. Schon physisch, wenn man als Streicher nicht atmet und sich bewegt wie die anderen, wird man sich enorm einsam fühlen. Die Philharmoniker bewegen sich wie ein Vogelschwarm, und man sieht, wie Musiker, die hinzustoßen, das nach und nach aufnehmen, ohne darüber nachzudenken. Ich habe mich ganz sicher verändert in den vergangenen acht Jahren und das Orchester auch, das ist eine sich immer weiter entwickelnde Partnerschaft.
Wie viel Freiheit lassen Sie den Musikern, etwa was die Bogenstriche angeht?
Je länger wir zusammenarbeiten, mehr und mehr. Ich habe mit Orchestern gearbeitet, die sehr viele Details von mir wollten. Das ist hier anders. Jemand sagte mir mal: Die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, ist wie eine Herde Katzen zu hüten. Man muss sich etwas einfallen lassen, damit sie das machen, was du von ihnen willst. Man gibt ihnen einen Rahmen vor, und darin bewegen sie sich als Gruppe vorwärts, weil sie sehr aufeinander hören. Sie spielen kammermusikalisch. Das kann man als Dirigent nicht anderswo trainieren, weil es kaum ein anderes Orchester gibt wie dieses. Sie haben gelernt, was ich brauche, und ich habe gelernt, was sie brauchen.
Über welches Lob freuen Sie sich am meisten?
Ich denke, das Orchester ist flexibler und offener geworden, es gibt eine größere Neugier als zuvor. Aber was mich besonders glücklich machen würde, wäre, wenn jemand sagte: Mensch, das klingt wirklich wie Brahms oder der betreffende Komponist. Ich denke, wir sind am besten, wenn die Egos sich in den Dienst des jeweiligen Stückes stellen.
Sie haben ja Ihr Musikerleben als Schlagzeuger begonnen.
Als Schlagzeuger, Pianist und schlechter Geiger. Dass ich Dirigent wurde, ist Mahlers Schuld. Mit zwölf habe ich Mahlers Zweite in Liverpool gehört, da hatte ich plötzlich den Wunsch, dort in der Mitte zu sein. Da hat mich der Virus befallen, ein unheilbarer Virus.
Spielen Sie noch selbst?
Manchmal spiele ich Klavier, ich mache Kammermusik oder begleite. Und letztes Jahr wurde fürs Orchester ein Werk geschrieben, in dem es ein Schlagzeug-Solo für den Dirigenten gab, „wenn der Dirigent zufällig Schlagzeuger ist“ – da musste ich sehr lachen. Es ist wunderbar, selbst den Klang zu erzeugen. Als Dirigent tut man alles oft eine oder zwei Sekunden vorher, man atmet ein, ohne auszuatmen. Es ist wichtig sich bewusst zu machen, wie es ist, wirklich den Klang zu erzeugen. Und wie hart es ist. Als ich 19 war, habe ich gelernt, was ein großer Dirigent ist – als ich zum ersten Mal für Bernard Haitink spielte. Ich war der Pianist in The Rake’s Progress, und da gibt es bestimmte Passagen, die ich spielen konnte, wenn Bernard dirigierte, und wenn er nicht da war, konnte ich es nicht. Er gab mir das Selbstvertrauen, das zu spielen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wer weiß, ob mir das auch einmal gelingen wird als Dirigent; aber ich habe gerade eines der Geheimnisse des Dirigierens entdeckt.
Sie haben ein enorm breites Repertoire. Ist es möglich, alles zu machen?
Vermutlich nicht, aber ich versuch‘s. Weil ich es liebe. Meine Neugier ist groß. Aber wenn ich nicht das Gefühl habe, einen gewissen Zugang zum Stück zu bekommen, dirigiere ich es nicht.
Viele Ihrer Kollegen leiten zwei Orchester. Reichen Ihnen die Philharmoniker?
Ich verstehe nicht, wie die das machen. Ein Orchester ist wie eine Familie für mich. Gut, es gibt Leute mit zwei Familien, aber ich fände es schwierig, sich mit zwei Orchestern gleichermaßen zu identifizieren. Daniel Barenboim lacht immer über mich: Du arbeitest doch kaum, sagt er. Aber ich brauche die Zeit. Und ich arbeite weniger als Gastdirigent als früher. Ich bin Vater einer jungen Familie, mein Kind kommt zur Schule, das Leben wird komplizierter, da muss ich hier sein.
Es gibt den Vorwurf: Andere Orchester arbeiten programmatisch, die Philharmoniker verlassen sich auf die Strahlkraft der großen Dirigenten- und Solisten-Namen. Ein unfairer Vorwurf?
Absolut! Wir zeigen die Verbindungen nicht immer so, dass es das Feuilleton sofort abschreiben kann, aber es gehen viele Verbindungen quer durch die Saison. Das betrifft Länder und Komponisten und Themen. Wenn ich die letzten Saisons sehe mit dem Sibelius-Zyklus oder der ungarischen Musik, da sind starke Linien, und es wird mehr werden. Aber wir haben auch die Verpflichtung, wirklich eine Bandbreite zu bieten. Wenn man mit Dirigenten mit großen Namen arbeitet, ist es schwieriger, programmatisch zu arbeiten. Weil die Dirigenten eine genaue Vorstellung davon haben, was sie hier dirigieren wollen – und das ist sehr oft die Alpensinfonie oder Bruckners Achte.
Aber Sie sind verantwortlich fürs Programm.
Wir sind alle verantwortlich, wir arbeiten demokratisch, als Team. Das Orchester hat einen großen Einfluss darauf, wer kommt und was gespielt wird.
Sie nehmen diesen Herbst seit 30 Jahren Platten für die EMI auf. Was bedeuten Ihnen Aufnahmen?
Wenn ich ein Stück erneut erarbeite, höre ich mir meine alte Aufnahme an. Manchmal bin ich entsetzt, manchmal erstaunt. Das ist wie ein Schnappschuss Ihrer Kinder, es erinnert Sie an eine bestimmte Situation im Leben. Ich bin mit Platten aufgewachsen. Das war das erste, für das ich mein Taschengeld ausgegeben habe, nachdem ich von Comics gelangweilt war. Dass man der Musik zuhören kann, wo und wann immer man will, und dass man hören kann, was man zu einer bestimmten Zeit über ein Stück gedacht hat, das finde ich wichtig. Platten sind ein Weg, Ideen in die Welt zu tragen.
Gibt es noch Repertoire, auf das Sie neugierig sind?
Ohne Ende, das wird immer so bleiben. Ich bin Mitte 50 und habe gerade meine erste Carmen gemacht. Es gibt noch so viele Dinge zu tun – zum ersten Mal, aber auch ein zweites oder drittes Mal. Man hört doch nicht auf, neugierig zu sein.
Viele Dirigenten konzentrieren sich irgendwann auf Beethoven, Brahms, Bruckner.
Ich weiß nicht, ob mir das passieren wird. Ich war so glücklich, Solti bei seiner ersten Traviata zu erleben, da war er 80. Wir haben eine unglaublich privilegierte Position, weil wir wählen können, was wir machen. Und dieses Unterscheiden zwischen einem Meisterwerk und einem nur interessanten Werk ist ein mitteleuropäisches Phänomen. Natürlich gibt es Meisterwerke, ohne Frage. Aber dieses Ranking, was ist die beste Bruckner-Sinfonie, das beste Bartók-Ballett… Viele Leute denken, das wichtigste Repertoire sei das, was Karajan dirigierte. Und was er nicht dirigiert hat, sei nicht wichtig. Sagen wir so: Das ist nicht der einzige Weg, die Dinge zu sehen.
Der Dirigierlehrer Jorma Panula sagt, das ideale Alter für Dirigenten ist Ende 70.
Er ist wunderbar, und er hat Recht. Es passiert etwas mit Dirigenten ab einem bestimmten Alter. Es kann schon mit 60 anfangen, nehmen Sie Mariss Jansons, das ist der vielleicht kompletteste lebende Dirigent. Es ist eine meiner Freuden als jüngerer Kollege, dies zu sehen. Ich habe Claudio Abbado immer geliebt – als ich ihn mit Mahlers Zweiter gehört habe, mit 16, das hat mein Leben verändert. Aber was in den letzten zehn Jahren mit ihm passiert ist, ist erstaunlich. In einem Alter, in dem andere ruhiger werden, fangen wir an, kompetent zu werden.