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SHMF: Interview Christian Kuhnt

Kultur besticht durch Mut

Nichts ist unmöglich: Wie das Schleswig-Holstein Musik Festival nun doch stattfinden kann, erklärt Christian Kuhnt im Interview.

vonHelge Birkelbach,

Natürlich wurde dieses Interview abstandsgerecht per Telefon geführt. Corona lässt die Drähte heißlaufen, aber Christian Kuhnt, der die 35. Ausgabe des Schleswig-Holstein Musik Festival leitet, bleibt cool. Geradezu mönchsgleich ruht er in sich und erinnert an einen Satz von Franz von Assisi: „Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche.“ Mit seinem „Sommer der Möglichkeiten“ hat er das traditionsreiche Festival umgekrempelt.

Haben Sie jemals daran gedacht, dass Sie zum Krisenmanager werden würden?

Christia Kuhnt: Nein, überhaupt nicht. Mir fehlte jede Phantasie, mir vorstellen zu müssen, dass ich mal irgendwann das, was ich so gerne tue und was ich vielleicht auch ganz gut kann, nicht machen darf. Den Kollegen geht das genauso. Auch andere Festivals haben ja dieses Problem. Wir telefonieren täglich und tauschen uns aus, teilen unsere Ratlosigkeit. Wenn man sich die letzten Wochen anschaut, hat man den Eindruck, dass man sich teilweise bis ins Detail Gedanken gemacht hat, wie man einen Friseurbetrieb oder ein Bordell wiedereröffnen kann. Wie aber ein kulturelles Ereignis realisierbar ist, das ist bis heute ungeklärt. Wir alle wissen um die Relevanz der Kultur und ihrer enormen Vielfalt. Wenn diese dann aber nicht von den Entscheidern wahrgenommen wird, erfüllt uns das natürlich mit Sorge und mit Verunsicherung.

Immer wird behauptet, wir seien eine Kulturnation. Warum hat die Politik nicht frühzeitiger genau diese Stärke mit konkreten Maßnahmen unterstützt?

Kuhnt: Auch als Politiker ist man in einer solchen Situation zunächst ratlos. Das ist menschlich, nachvollziehbar und nicht vorwerfbar. Gerade in den ersten Wochen der Corona-Krise hat sich bewahrheitet, was Herr Drosten sagte: „There’s no glory in prevention“. Vieles wurde sicher richtig gemacht. Dass man dabei nicht auf jeden Teilaspekt des gesellschaftlichen Lebens eingehen konnte, kann man verstehen. Jetzt jedoch befinden wir uns in einer Phase, in der wir Perspektiven brauchen. Das meine ich nicht nur auf das Individuum bezogen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Die Perspektiven werden ja auch sukzessive geschaffen. Mein Eindruck ist, dass man durchaus die Kultur wahrnimmt, ihr aber zu wenig zutraut. Selbstverständlich sind wir als Veranstalter – egal ob bei Konzerten, Theateraufführungen oder Lesungen – in der Lage, verantwortungsbewusst mit unseren Künstlern und unserem Publikum umzugehen. Dieses Vertrauen in die Kompetenz der Veranstalter fehlt mir in der Wahrnehmung der Politik. Selbstverständlich würde jetzt keiner auf die Idee kommen, ohne Sicherheitsabstände, ohne Einhaltung von Hygienerichtlinien und Reduzierung von Kapazitäten ein kulturelles Ereignis stattfinden zu lassen. Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen einem klassischen Konzert und beispielsweise einer Karnevalsveranstaltung. Wir sollten als Veranstalter Selbstbewusstsein zeigen. Wir können Dinge ermöglichen, auch wenn sie im Moment ganz anders geartet sind, als wir gewohnt sind. Die Kultur besticht ja gerade durch Kreativität, Flexibilität – und auch durch Mut. Das darf man nicht vergessen.

Routine versus Improvisation: Wie verteilt sich das Verhältnis derzeit in Ihrer Arbeit?

Kuhnt: Wir telefonieren heute, wissen aber gar nicht, in welcher neuen Situation wir sind, wenn dieses Interview erscheint. Das ist natürlich das Gegenteil von Perspektive. Wenn man letztendlich das Gefühl hat, dass alles, was man tut, verboten ist, kann man eigentlich nicht improvisieren. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wir haben die Improvisation professionalisiert. Wir wissen, wie man auf Dinge eingeht, die man so vielleicht nicht erwartet hätte. Wir wären an 117 verschiedenen Spielstätten zu Gast gewesen, bei denen jeweils ganz unterschiedliche Bedingungen herrschen. Das Schleswig-Holstein Musik Festival besticht geradezu durch Improvisation. Wie andere Kulturschaffende wären wir aber noch besser, wenn man uns machen lassen würde – im vollen Bewusstsein für die Verantwortung, die wir für die Gesundheit der Künstlerinnen und Künstler sowie für das Publikum haben. Auf der anderen Seite ist es ein schönes Erlebnis für uns alle, dass wir mal rauskommen aus der Routine, in der man zwangsläufig ab einer bestimmten Größe steckt. Mal raustreten, sich schütteln und fragen: Warum tun wir das eigentlich, was wir so gerne tun? Es ist wichtig, ganz fundamentale Fragen zu stellen, um täglich den Wert zu spüren, den musikalische Vermittlung ausmacht. Und auch in dem, was technisch möglich ist, lernen wir täglich dazu.

Wie stark hat sich Ihr Tagesablauf geändert?

Kuhnt: Er hat sich gerade in den ersten Tagen fundamental geändert, als wir alle noch nicht so richtig Homeoffice-tauglich waren. Das Büro war verwaist, die Kommunikation eingeschränkt. Es dauerte aber nur zwei bis drei Tage, dann waren wir technisch soweit ausgestattet, im Homeoffice sinnvoll und produktiv arbeiten zu können. Mir persönlich fehlen jedoch die Abendveranstaltungen jeglicher Art, das Treffen mit Menschen. Egal, ob es Theater-, Kino- oder Konzertbesuche sind: Auch wir als Veranstalter brauchen ja Inspiration von außen, um dann selbst schöpferisch tätig sein zu können. Das fehlt ungemein! Die Abende sind derzeit nicht verplant. Diesen Zustand kenne ich eigentlich gar nicht!

Wie reagieren die Künstler auf die neue Situation?

Kuhnt: Das ist eine ganz wichtige und entscheidende Frage. Als sich abzeichnete, dass der Sommer unserer Planung gemäß so nicht stattfinden kann, sind wir frühzeitig auf die Künstlerinnen und Künstler zugegangen und haben gesagt: Es könnte Unheil drohen. Die Kulturszene war seinerzeit bereits von vielen Absagen betroffen. Das war ungefähr Anfang April. Dass wir uns überhaupt melden, wurde von vielen positiv aufgenommen. Wir konnten die Künstlerinnen und Künstler in solch einer Situation ja nicht vollständig allein lassen. Dann merkten wir in den Gesprächen, dass im Falle einer kompletten Absage es vollkommen undenkbar ist, den Kopf in den Sand zu stecken, auch wenn das nirgendwo besser ginge als an den Küsten von Schleswig-Holstein.

Xavier de Maistre ist in diesem Jahr Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Xavier de Maistre ist in diesem Jahr Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals

Zum Glück haben Sie das nicht getan.

Kuhnt: Wir haben immer gesagt: Wenn wir absagen müssen, arbeiten wir an einem Alternativprogramm. Dann entstand relativ schnell die Idee eines „Sommer der Möglichkeiten“, wie wir ihn nun nennen. Es ist ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, mit Spontaneität. Wir hoffen natürlich, dass einige Live-Konzerte möglicherweise unter freiem Himmel erlaubt sein werden. Falls dies nicht der Fall ist, werden wir über verschiedene Medien die Programme zum Publikum bringen. Die Wohnzimmer verwandeln sich in Kuhställe, wo wir ja sonst auch spielen. Die Küchen verwandeln sich in Scheunen. Wenn Live-Konzerte nicht möglich sind, erlebt man das Schleswig-Holstein Musik Festival zu Hause auf eine besondere Art und Weise. Wir versuchen zu verhindern, nur abgefilmte Konzerte zu zeigen. Wenn wir mit filmischen Mitteln arbeiten, nutzen wir die Gelegenheit, auch etwas von den Personen zu zeigen, die hier auftreten. Ich sage immer: Es muss einen positiven Aspekt in dieser Krise geben. Vielleicht ist es der, dass wir in der medialen Umsetzung von Konzertformaten dazulernen und besser werden.

Zur Umsetzung stehen Ihnen einige starke Partner zur Seite.

Kuhnt: So ist es. An erster Stelle steht unser Medienpartner, der NDR, der wunderbar kooperativ ist. Viele Konzerte werden im Radio übertragen, wir arbeiten aber auch an Fernsehformaten. 3sat und arte sind ebenfalls im Boot. Es ist äußerst erfreulich, dass diese starken Medien uns mit ihrem Know-how in der aktuellen Situation unterstützen. Die enge Verbindung haben wir über die vergangenen Jahre aufgebaut, das hilft uns jetzt. Wir können mehr gestalten als es üblicherweise der Fall gewesen wäre. Wenn es kein Eröffnungskonzert live aus der Musik- und Kongresshalle in Lübeck geben kann, gibt es etwas anderes, was nicht weniger reizvoll ist. Mit unseren Porträtkünstlern wie Sol Gabetta, Sabine Meyer, Xavier de Maistre, Martin Grubinger und Avi Avital sind wir im Gespräch und wollen gerne ein gemeinsames Eröffnungsfest feiern, das auf 3sat übertragen wird. Es ist schön, dass man mit starken Partnern kreativ und flexibel reagieren kann, um gemeinsam zu neuen Ufern aufzubrechen. Wir haben eine Vielzahl von unterschiedlichen Formaten, die im Laufe des Junis veröffentlicht werden. Es wird eine Zeitungsbeilage geben, die in einer Auflage von 600.000 in Schleswig-Holstein verbreitet wird. Die absehbaren Änderungen werden wir tagesaktuell über unsere Website kommunizieren. Alle Veranstaltungsformate sind so flexibel angelegt, dass wir sofort reagieren können, sobald es gewisse Lockerungen gibt – oder eben eine Verschärfung von Maßnahmen.

Was tun Sie für die Künstler, die nicht auftreten können?

Kuhnt: Daran haben wir selbstverständlich auch gedacht. Wir dürfen insbesondere die vielen freien und selbständigen Solo-Künstler nicht vergessen. Für sie haben wir einen Fonds ins Leben gerufen. „Das SHMF hilft“ wird finanziert durch den Verzicht vieler Kunden, die auf eine Rückerstattung ihrer bereits bezahlten Tickets verzichten. Über unsere Website können übrigens auch Spenden in den Fonds eingezahlt werden. Wir schaffen aber nicht nur wirtschaftlich eine gewisse Grundlage, sondern auch neue Auftrittsmöglichkeiten. Künstler wollen sich vermitteln und sind gewohnt, auf einer Bühne zu stehen. Diese Bühne wollen wir so vielen Künstlern wie nur möglich bieten. Wir wollen keinem Künstler, dem wir aufgrund der neuen Planung für den „Sommer der Möglichkeiten“ zugesagt haben, eine Absage erteilen. Die Reisebestimmungen sind auch noch ein Thema, das einen Live-Auftritt verhindern könnte. Das können wir nicht beeinflussen. Aber alles wird umgesetzt, ob live oder eben in medialen Formaten.

Wie können Sie als Veranstalter die absehbaren Verluste abfedern?

Kuhnt: Wir befinden uns in intensiven Gesprächen mit unseren Sponsoren. Die Landesregierung steht an unserer Seite. Es gibt viel Unterstützung, das freut uns. Als private Stiftung wird das Schleswig-Holstein Musik Festival nur zu etwa zehn Prozent aus Mitteln des Landes finanziert. Bei einem Etat von zwölf Millionen Euro müssen wir den Rest selbst erwirtschaften. Aber wir konnten in den letzten Jahren Rücklagen bilden, die uns ermöglichen, eine gewisse Durststrecke durchzustehen.

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