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INTERVIEW ELISABETH LEONSKAJA

„Es ist meine heilige Pflicht“

Die Pianistin Elisabeth Leonskaja über Beethoven auf Russisch, die Gefährlichkeit Wiens und musikalische Unternehmungslust

vonArnt Cobbers,

Wäre Elisabeth Leonskaja Schauspielerin, sie wäre die Idealbesetzung für die Rolle einer Tolstojschen Fürstin. Im Gespräch zeigt sich die im georgischen Tiflis aufgewachsene Russin, die seit 1978 in Wien lebt, als warmherzige, bescheidene Frau, die gern lacht.

Frau Leonskaja, Sie wirken auf der Bühne so souverän, als bewegten Sie sich in Ihrem Wohnzimmer. Liegt das auch daran, dass Sie so früh schon konzertiert haben?
Ich habe mit sieben angefangen, Klavier zu spielen, das war ganz normal für ein sowjetisches Kind und gar nicht früh. Damit hat das nichts zu tun. Je mehr man spielt, desto wohler fühlt man sich auf der Bühne. Nach einer größeren Pause ist man aufgeregter. Aber es kommt immer auch auf die Tagesverfassung an, auf das Stück, das Klavier, die Akustik. All das spürt man, und darauf reagiert man. Gespür und Intuition sind wichtige Worte für Musiker.

Kommt es auch auf das Publikum an?
Ich habe großes Vertrauen zum Publikum – und fühle eine Verantwortung. Wozu gibt man Konzerte? Damit die Menschen sich für eine Weile vergessen, damit sie in eine völlig andere Sphäre eintauchen und sich sozusagen reinigen. Mir geht es nicht darum, dass sie sich für mich begeistern – zumindest schon lange nicht mehr. Ich spüre die Verantwortung, dass ich die Lebenswahrheit und die Reinheit, die in der Musik stecken, zur Geltung bringe – schließlich sind es eine innere Erregung und eine Idee, die den Komponisten dazu gebracht haben, dieses Stück zu schrei¬ben. Was das genau war, das müssen wir Interpreten versuchen herauszufinden durch den Notentext, das ist eine Lebensaufgabe. Ich wünsche mir, dass die Zuhörer aus dem Konzert gehen mit dem Gefühl, etwas erkannt zu haben als geistige Idee, was uns im Leben beschäftigt, was wir aber normalerweise nicht erkennen, weil wir zu blockiert sind.

Wie entwickeln Sie Ihre Interpretationen?
Ich suche die Musik in mir, da gibt es Parallelen. Aber nicht immer. Nehmen Sie das zweite Klavierkonzert von Prokofjew. Das ist der Wurf eines 19-Jährigen, weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Aber es berührt mich zutiefst. Es ist seinem besten Jugendfreund gewidmet, der sich umgebracht hatte. Ich stelle mir vor, dass ein junges Genie in dieser tiefsten Erregung nach dem ersten großen Verlust im Leben alles hineinwirft, was er über das Leben weiß. So verstehe ich das Stück.

Ziehen Sie generell Informationen über das Umfeld eines Werkes zu Rate?
Es ist gut, viel zu wissen, allerdings muss dieses Wissen ins Herz hineinrutschen, Kopfwissen allein bringt gar nichts. Als ich Prokofjews zweites Konzert noch nicht selbst gespielt hatte, war es für mich nur laut und chaotisch. Ich habe nichts verstanden. Erst als ich mich damit beschäftigt habe, habe ich seine Qualität erkannt.

Junge russische Pianisten sagen oft, sie arbeiten intuitiv.
Sie sind Kinder einer großen Kultur, sie haben viel russisches Repertoire, und das ist für sie so selbstverständlich wie russisch zu sprechen. Durch die Sprache bekommt man automatisch ein Gespür für lange Phrasen. Auch Beethoven spielen wir alle auf russische Weise, aber wir sind überzeugt davon, dass es irgendwie stimmt, weil unser Herz offen ist. Man spricht Beethoven.

Aber Sie spielen Beethoven doch nicht russisch – nach so vielen Jahren in Wien.
Ich kann das selbst nicht beurteilen. Mein Beethoven hat sich ganz sicher verändert. Ich bin ich geblieben, aber mit Korrekturen.

Viele große Pianisten für das Repertoire Mozart, Beethoven, Schubert kommen oder kamen aus Österreich oder haben dort zumindest gelebt.
Es gibt eine lustige Geschichte, die ich sehr mag. Martha Argerich hat über Schubert geklagt: Ich verstehe ihn nicht. Und Friedrich Gulda sagte ihr: Marthita, du kannst nichts dafür, dass du in Buenos Aires geboren bist. Das ist es! Ich glaube, das Schwierigste ist, eine andere Kultur aufzunehmen und sich einzuarbeiten. Wenn es gelingt, ist es großartig. Aber ich frage mich, ob es wirklich hundertprozentig möglich ist. Bei Schubert gibt es Dinge, die jeder durchschnittliche Wiener besser versteht als ich, ich muss viel darüber nachdenken. Da sind tiefe Sachen leichtgewichtig ausgedrückt. Schubert ist in gewisser Hinsicht schwieriger als Beethoven.

Gibt es Stücke, die Sie nicht spielen, weil Sie keinen Zugang finden?
Ich habe eher Angst, ich schaffe es nicht. Wenn ich es doch schließlich spiele, denke ich: Wieso hatte ich Angst?

Sind Sie neugierig?
Man sagt, ich habe ein großes Repertoire. Ich finde das nicht. Die erste Phase des Lernens dauert bei mir lange. Wenn es drin ist, geht es. Dadurch kann ich nicht so viel lernen. Aber neugierig bin ich auf jeden Fall.

Erarbeiten Sie sich noch neue Stücke?
Ja. Strawinsky ist mehr und mehr meine Liebe, es ist eine so unglaublich reine Musik. Es gibt nur leider nicht so viel für Klavier. Ich habe mit Leonidas Kavakos das Duo Concertante gemacht, und alle sagten: Was für ein Stück, warum hören wir das nie?! Ein grandioser Komponist!

Warum sind Sie 1978 nach Wien gegangen?
Aus mehreren Gründen. Ich hatte dort schon dreimal konzertiert, hatte also meine Kontakte. Zweitens die deutsche Sprache, die hatte ich in der Schule gelernt. Und drittens: Damals führte der Weg nach Israel über Wien. Man bekam nur ein Papierchen in russischer Sprache mit Foto, ein Transitvisum für Wien für drei Monate – ich habe das noch. Dort sollte man sich den Organisationen übergeben, die einen weiterleiteten. Ich habe mein Ausreisevisum acht Tage vor einem Konzert bekommen, das ich mit den Wiener Symphonikern geben sollte. Ich habe in Moskau alles abgewickelt und bin am Tag der Probe in Wien angekommen. Das Gepäck blieb am Flughafen, die Prozedur dauerte damals noch lange, und ich bin mit meinem Konzertkleid und Schuhen direkt zur Probe gefahren. So hat mein Leben in Wien angefangen.

Haben Sie sich sofort wohlgefühlt?
Ja, es war und ist noch die Stadt von Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Strauß usw. Das ist eine Märchensituation, wenn man nur an die Kunst denkt, dieses Gefühl der Harmonie in der Stadt. Aber man vergisst leicht, dass die Stadt andere Seiten hat, eine Kampfseite. Ich bin in Wien zu Haus, ich liebe Wien, aber ich bin keine Wienerin.

Was ist diese andere Seite?
Das ist schwer zu beschreiben. Artur Schnabel spürte sie schon Ende des 19. Jahrhunderts als Kind. Die Wiener sind freundlich und gesellig, aber sie interessieren sich nicht wirklich für den anderen. Es gibt keinen wirklichen Austausch. Es herrscht höfische Höflichkeit.

Da ist Berlin anders.
Hier weiß ich, woran ich bin. Das ist ein gutes Gefühl. Ich fühle mich fast wie damals als Studentin in Moskau. Hier bin ich, was ich kann, und nicht, was ich habe. Der Schauspieler Gert Voss hat mal gesagt: Wenn man in Wien nicht aufpasst, wird man in einer Woche wie ein Stück Sachertorte. Es verführt einen zum genüsslichen Leben. Man vergisst, dass man an sich arbeiten muss. Das ist die größte Gefahr im Leben, das habe ich schon an mir selbst erlebt.

Wo ist Ihre Heimat?
Ich habe zwei: meine Muttersprache und die Musik. Überall wo ich das habe, bin ich daheim. Wenn ich zu einem russischen Orchester komme, entsteht sofort eine bestimmte Atmosphäre, wo ich ich bin. Das ist Heimat.

Sie betonen stets, Swjatoslaw Richter habe einen starken Einfluss auf Sie gehabt.
Wie könnte das anders sein? Er hat den Maßstab gesetzt, ganz einfach. Ich habe ihn als Studentin kennengelernt, Ende der 60er Jahre. Ich war damals verheiratet mit Oleg Kagan, dem Geiger, und über ihn entstand der Kontakt. Ich war oft bei ihm zu Hause. Wir haben Schumanns Andante und Variationen im Konzert gespielt, und hatten gerade angefangen, die Mozart-Bearbeitungen von Grieg zu lernen, als ich mein Ausreisevisum bekommen habe. Das war ein schlimmer Augenblick. Das Visum zurückzugeben hätte bedeutet, kein zweites mehr zu bekommen. Aber wegzufahren ohne Konzert … Ich bin gefahren, das Konzert haben wir erst 13 Jahre später gegeben. Getroffen haben wir uns aber oft, er war auch oft bei mir in Wien. Die Freundschaft hat nicht gelitten. Aber was das Musizieren angeht: Man soll das nicht leugnen, ich war auch stolz, aber ich war mir dieser Distanz zwischen dem, was er konnte, und dem, was ich konnte, immer bewusst. Ich erinnere mich an eine Probe, ich wollte etwas besonders lebendig vortragen, da hat er unterbrochen. Er war nie laut, immer leise und höflich. Und er sagte: Lilitschka, warum spielen Sie so unternehmungslustig? Er hatte recht, man muss an dieser Unternehmungslust arbeiten. Sie bringt einen Drive von außen, dabei sollte man alles aus dem Notentext entwickeln.

Als Sie mit sieben Jahren angefangen haben, Klavier zu spielen – war das Ihr eigener Wunsch?
Nein, das war der meiner Mutter. Sie hatte Gesang und Klavier studiert, in furchtbar schweren Zeiten in Russland. Ihre Idee war, dass Musik für ein Mädchen etwas Schönes sei. Sie hat sich nicht vorstellen können, was für ein Sklavenleben Musiker führen: um fünf aufstehen, um den Flieger zu erreichen, Koffer schleppen, unausgeschlafen zur Probe gehen und was alles noch dazugehört. (lacht)

Aber Ihr Talent hat sich ja dann schnell gezeigt.
Es fiel mir leicht. Nach zwei Monaten habe ich schon das erste Mal vor Publikum gespielt. Und wenn man dann früh aufgefordert wird, Solokonzerte zu geben, versteht man, dass es ernst wird. Da gab es eigentlich keine Alternative mehr.

Und seitdem ist Musik, pathetisch gesagt, Ihr Leben?
Das hat sich im Laufe der Zeit vertieft. Es ist meine heilige Pflicht, meinen Eltern und dem Leben gegenüber, wenn ich dieses Talent vom lieben Gott bekommen habe. Wenn ich diese Aufgabe nicht erfülle, bin ich nicht zufrieden. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, aufzuhören, da würde ich sofort krank. Musik ist Heilung.

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