Jean-Guihen Queyras ist ein Tausendsassa: Er gilt gleichermaßen als Fachmann für Neue wie für Alte Musik, bildet mit Antje Weithaas, Daniel Sepec und Tabea Zimmermann seit 2002 das Arcanto Quartett, spielt regelmäßig mit Isabelle Faust und Alexander Melnikov Trio, unterrichtet als Vollzeit-Professor an der Hochschule für Musik Freiburg/Breisgau und leitet ein Festival in Forcalquier in der Provence. Mit seiner Familie wohnt der Cellist mit französischer und kanadischer Staatsangehörigkeit in einer stadtplanerisch interessanten neuen Siedlung am Rande von Freiburg, wo er (neben Lyon und New York) studiert hat. Dass er von Offenheit, Neugierde und einem fröhlichen Enthusiasmus angetrieben wird, merkt man im Gespräch mit ihm schnell.
Herr Queyras, es wirkt, als könnten Sie alles spielen, was man auf dem Cello nur spielen kann. Gibt es einen Repertoirebereich, in dem Sie sich nicht so wohl fühlen?
Ich bin ein extrem neugieriger Mensch. Ich brauche die Abwechslung. Wenn ich aus einer Quartettphase komme, habe ich neuen Antrieb fürs nächste Orchesterkonzert. Und wenn ich zwei Tage unterrichtet habe, spiele ich besser. Von meiner Lehrerin Reine Flachot habe ich eine goldene Regel gelernt: Man muss nicht unbedingt Pausen einlegen. Aber man muss für Abwechslung sorgen. Dadurch ergeben sich immer neue Ideen und Verknüpfungen. Aber es gibt Grenzen. Ich höre gern Jazz, aber ich weiß, ich werde nicht die Zeit haben, die ich bräuchte, um mich zu trauen, Jazz zu spielen.
Und in der klassischen Musik?
Vielleicht liegt es am Instrument. Wir haben als Cellisten nicht so ein Riesen-Repertoire und dadurch die Möglichkeit, in die Breite zu gehen. Mir ist klar, dass ich bestimmte Sachen weniger gut mache als andere. Aber das soll das Publikum entscheiden. Ich würde nichts von vornherein ausschließen.
Die Repertoire-Liste auf Ihrer Internetseite ist beeindruckend.
Da steht alles drauf, was ich gespielt habe. Manches kann ich auf Anhieb spielen, anderes braucht Vorbereitung. Die Zimmermann-Solosonate zum Beispiel ist eine wahnsinnige Herausforderung, da musste ich die letzte Anfrage absagen, weil ich vor dem Konzerttermin nicht genügend Zeit gehabt hätte. Von meinem holländischen Agenten wurde ich am Anfang gefragt: Was willst du in zwei Jahren spielen? Ich sagte: Ich bin offen für alles, mal sehen, was kommt. Das verstand er nicht. Für mich ist es in der Musik wie im Leben: Man trifft Leute, und daraus entsteht etwas. Ein wunderbares Beispiel ist die Begegnung mit dem Hamburger Ensemble Resonanz, dessen Artist in residence ich für drei Spielzeiten bin. Ich hatte vorher nie daran gedacht, ein Kammerorchester zu führen und dessen Programme mitzugestalten.
Warum sind Sie nach dem Studium ins Ensemble Intercontemporain gegangen?
Zum einen war ich schon immer neugierig auf neue Musik, ich habe bereits mit 14, 15 das Dutilleux-Konzert gelernt, das war auf der Hochschule in Lyon allerdings ganz normal. Zum anderen hatte ich, als ich mit 23 fertig war, kein natürliches Solistenprofil. Wenn ich damals dauernd das Dvořák-Konzert hätte spielen müssen, wäre ich eingegangen. Die Möglichkeit, im Ensemble Intercontemporain zu spielen, war das Ideal: Teil einer Gruppe zu sein, in der jede Persönlichkeit anerkannt wird und wo jeder Impuls und jede Initiative willkommen sind, im Bereich der neuen Musik, in einem Dream Team mit Boulez, Pierre-Laurent Aimard, Florent Boffard, Peter Eötvös und all den anderen starken Persönlichkeiten. Und dazu noch die tägliche Zusammenarbeit mit den Komponisten, das war die beste Schule für mich. Ich glaube, ich habe diese zehn Jahre gebraucht, um mich auch im klassischen Repertoire wirklich frei zu fühlen.
Aber Sie haben parallel schon als Solist gearbeitet.
Es ist ein Ensemble, in dem man immer auch solistisch exponiert ist. Ich habe schon früh das Ligeti-Konzert mit ihnen aufgenommen. Es kamen immer mehr Anfragen für andere Konzerte, und irgendwann musste ich mich entscheiden. Ich wollte einfach mehr Zeit für meine eigenen Projekte haben.
Sie haben sich auch intensiv mit der Alten Musik beschäftigt. Fällt es Ihnen leicht, hin und her zu wechseln?
Man muss tatsächlich anders spielen, man muss anders intonieren, eine Darmsaite spricht anders an. Es gibt Automatismen, die man aber trainieren muss. Und wenn ich lange nicht mehr auf Darmsaiten gespielt habe, mache ich Fehler. Aber es ist wie ein Sport, in diese andere Welt zu wechseln, das mache ich sehr gern. Es fällt mir allerdings nicht mehr so leicht wie noch vor einigen Jahren. Bei der Folle Journée in Nantes habe ich mal das Schumann-Cellokonzert auf Darmsaiten mit Concerto Köln gespielt und zwei Stunden später ein Schumann-Quartett mit einem Steinway und Stahlsaiten und modernem Bogen. So etwas Verrücktes würde ich heute nicht mehr machen. Aber von einem Tag auf den anderen, das geht.
Sie spielen auch regelmäßig Streichquartett. Wie geht das nebenbei auf solch einem Niveau?
Wir haben nicht den Anspruch, das anzubieten, was ein Vollzeitquartett anbietet. Wir sind vier Leute, die sich musikalisch und persönlich sehr gut verstehen und die sich mit unglaublicher Begeisterung sechs Mal im Jahr treffen, um mit Frische und Energie und Leidenschaft an Meisterwerke herangehen, die wir unbedingt spielen wollen. Diese Energie wäre auf Dauer schwierig zu halten. Wir streben keinen homogenen Klang an, sondern jeder macht, was er will. Das haben wir anfangs als Witz gesagt, aber es ist eigentlich so. Wir wollen vier eigenständige Persönlichkeiten sein. Das ist für uns sehr erfüllend. Und wenn man auf der Bühne merkt, da passiert etwas, dann kommt es meist auch beim Publikum so an. Ich könnte mir nicht vorstellen, einfach an diesem Repertoire vorbeizugehen. 95 Prozent der Komponisten haben ihr Bestes in dieser Gattung geschrieben.
Haben Sie als Cellist überhaupt noch Repertoire zu entdecken?
Oh ja, es gibt zum Beispiel viel französisches Repertoire zwischen Debussy und den 60er Jahren. Alexandre Tharaud ist Spezialist auf dem Gebiet, und wir haben vor, uns zusammenzusetzen und vieles vom Blatt zu spielen. Ich habe in Japan gerade einige neue Werke bekommen. (Er geht an seinen Schreibtisch und holt Noten) Sehen Sie, ein Stück von Frederic Mompou, das sieht interessant aus. Aber für mich bleibt wahrscheinlich die Anregung zeitgenössischer Musik wichtiger. Ich habe mehr Lust, nach vorn zu gucken. Ich möchte wieder verstärkt Uraufführungsprojekte initiieren und mit Komponisten zusammenarbeiten. Im Moment sind einige Uraufführungsprojekte von Jörg Widmann, Rebecca Saunders u.a. unterwegs.
Ist eine Uraufführung ein besonderes Gefühl?
Oh ja, schon die Schwangerschaft vor der Geburt ist wunderbar. Wenn man die Noten bekommt und sich zum ersten Mal herantastet, wenn man sieht, wie aus den Zeichen, die auf einem Blatt Papier stehen, eine musikalische Gestalt entsteht – und dann der Moment des Konzerts, da merkt man erst, was das Stück für ein Potenzial hat: Wie kommunikativ ist es, wie erfüllt es den Raum, sodass alle etwas Besonderes erleben? Es gab Stücke, wo ich in den Proben eher gezweifelt habe, und im Konzert war es ein richtiges Erlebnis. Und manchmal erwartet man sehr viel in den Proben, und dann wird es doch nicht so toll. Es gibt vieles, was man nicht unter Kontrolle hat. Der Moment des Konzerts ist entscheidend.
Genießen Sie es auch, wenn Sie von einem Stück nicht wirklich überzeugt sind?
Ich genieße meine Rolle als Interpret, als Bote zwischen der Welt des Komponisten und der Vorstellungskraft des Zuhörers. Dass ich die Verantwortung und die Chance habe, die Welt des Komponisten zum Leben zu bringen und dem Hörer zu vermitteln. Das tue ich mit voller Begeisterung, selbst wenn mich das Stück nicht so sehr anspricht.
Nun haben Sie mit der Akademie für Alte Musik Berlin Vivaldi aufgenommen. Wie sind Sie als Freiburger dazu gekommen, mit der Akamus fremdzugehen?
Ich liebe das Freiburger Barockorchester nach wie vor, wir haben noch mehrere gemeinsame Projekte vor uns. Der Grund ist sehr profan: Es gab ein Terminproblem für die Aufnahme. Ich bewundere die Akamus seit vielen Jahren und bin sehr glücklich über die Zusammenarbeit. Sie sind im besten Sinne Puristen, sie haben eine ganz besondere, fruchtbare Radikalität, was die Artikulation und die Dynamik betrifft, sie machen ganz eckige Effekte wie in einem kubistischen Bild, und das wirkt bei Vivaldi Wunder.
Vivaldi wird oft vorgeworfen, er sei so vorhersehbar.
Die Satzfolge, das muss ich zugeben, ist meistens dieselbe: schnell – langsam – schnell. Aber in den Konzerten gibt es viele tolle Erfindungen, von einem Konzert zum anderen wird das Cello ganz verschieden eingesetzt. Das F-Dur-Konzert ist ganz unschuldig und technisch nicht so anspruchsvoll, und im h-Moll-Konzert passieren plötzlich die wildesten Sachen in den obersten Lagen. Es gibt wunderschöne Farben, und es ist eine Musik, die wie kaum eine andere an ihren Entstehungsort gebunden ist: Man spürt sich von Venedig umgeben, von der Stimmung, den Schatten, dem Wasser.
Woraus ziehen Sie Ihre Inspiration außerhalb der Musik?
Ich bin neugierig in alle Richtungen. Letztes Jahr war ich in New York mit Alexandre Tharaud. Da sind wir am freien Tag in Mary Poppins gegangen, wie zwei Kinder. So ein Musical auf diesem hohen Niveau zu sehen, war genial. Auch die japanische Kultur fasziniert mich sehr. Ich bin ja in Quebec geboren und mit acht Jahren nach Frankreich gekommen. Aber zwischendurch, vom fünften bis zum achten Lebensjahr, war ich in Algerien, mein Vater hat da gearbeitet. Als Kind die Chance zu haben, mit einer ganz anderen Kultur in Kontakt zu treten, war toll. Das hat mich, glaube ich, geprägt. Erstaunlicherweise habe ich viele Erinnerungen daran. Mit arabischen und nordafrikanischen Musikern traue ich mich zu improvisieren, das mache ich ab und zu.
Sie haben 1986 beim ARD-Wettbewerb „nur“ den dritten Preis gewonnen. Ist das der Beweis, dass Juroren sich irren können?
Ich war gerade 19 Jahre, ich hatte von Bach sehr wenig Ahnung und noch viel zu lernen. Meine solistische Karriere hat mit Mitte 20 langsam angefangen. Ich bin ein Spätzünder. Ich bin froh, dass meine Karriere den Wettbewerben nichts schuldet, die hat sich durch die Begegnungen mit Musikern entwickelt. Ich brauche das Gefühl einer Mission, und das hat mir die neue Musik und haben mir die Komponisten immer gegeben. Dieses Gefühl von einer Mission, die man erfüllen muss, hatte ich mit 25 mit Dvořák oder Lalo ganz sicher nicht. Ich kann nicht gut spielen, wenn ich merke, ich bediene nur den Markt. Ich muss das Gefühl haben, dass das, was ich mache, gebraucht wird.