Startseite » Interviews » Blind gehört » „Stille ist auch Musik“

Blind gehört Peter Ruzicka

„Stille ist auch Musik“

Der Komponist und Dirigent Peter Ruzicka hört und kommentiert CDs, ohne dass er etwas über Werk und Interpreten erfährt

vonArnt Cobbers,

Peter Ruzicka war Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, der Hamburgischen Staatsoper und der Salzburger Festspiele, er ist künstlerischer Leiter der Münchner Biennale und Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, wo er seit langem lebt. Seit einigen Jahren aber konzentriert sich der promovierte Jurist, der auch Klavier und Oboe gelernt und bei Hans Werner Henze Komposition studiert hat, vor allem auf seine Arbeit als Komponist und Dirigent. 
 

Dorati: Divertimento für Oboe und Orchester

Yeon-Hee Kwak (Oboe)

Münchner Rundfunkorchester

Johannes Goritzki (Leitung) 2009

MDG

Ein Oboenkonzert, kleines Orchester, ein zweiter Satz, vermute ich, das Stück wird kaum damit begonnen haben. Das spielt nicht Heinz Holliger, aber auch nicht Al-brecht Mayer. (2. Satz) Ich hatte erst an den Klassizismus der Nachkriegsjahre gedacht, später Fortner, früher Zimmermann, aber das ist es nicht. Es gefällt mir. Jetzt kommen Passagen, für die 1950 zu früh wäre. Ein europäischer Dirigent als Komponist? Da prüfen Sie mich schwer. Ein Ungar? Antal Dorati! Ich habe ihn noch sehr gut gekannt, er hat zwei, drei Mal dirigiert, als ich Intendant in Berlin war. Das waren unvergessliche Konzerte, die Neunte Mahler, die Missa Solemnis. Dann hat er mir eine späte Oper in die Hand gegeben, die ich bis heute nicht realisiert habe, weil sie sehr aufwändig ist: Der Künder, die hat er als sein chef d’oeuvre gesehen. … Auf der Oboe habe ich es nur bis zu den Telemann-Sonaten gebracht. Ich habe das Orchesterinstrument Oboe immer sehr geliebt, habe auch immer versucht, in meinen Partituren etwas Besonderes für die Oboe vorzusehen. Nun habe ich endlich ein Oboenkonzert geschrieben – für Albrecht Mayer, mit dem ich es zusammen erarbeiten werde. Es heißt Aulodie. Ich habe eigentlich nur auf einen Solisten wie ihn gewartet. Durch seine einzigartig beredte Phrasierung vermag er so etwas wie Klangrede herzustellen, das wollte ich nutzen für das Stück, in dem es um emotionale Grenzgänge gehen wird.
 

Mahler: Sinfonie Nr. 4

Concertgebouw Orkest

Willem Mengelberg (Leitung) 1939

Grammofono 2000

(nach wenigen Tönen) Mengelberg, ich kenne die Einspielung gut. Ich habe die Originalpartitur von Mengelberg mit seinen handschriftlichen Eintragungen genau studiert, als ich mal drei Jahre lang Artistic Advisor des Concertgebouw-Orchesters war. Mengelberg und Mahler haben sich sehr intensiv über diese Sinfonie ausgetauscht, in Mengelbergs Partitur finden sich sehr viele Korrekturen, Aussprüche, Kommentare Mahlers, die man als authentisch ansehen kann. Zum Tempo zum Beispiel gleich auf der ersten Partiturseite: Da retardieren die Geigen extrem. Es ist wichtig, dies zu wissen, so mag es geklungen haben, als Mahler das selbst dirigiert hat – generell dieses beständige Changieren des Tempos, die Musik atmet und fließt, sie reagiert auf sich selbst. Dennoch: Wollte man dies heute genauso machen, würde es befremdlich wirken. Es ist die Frage, ob man als Interpret ein solches Vorbild einfach übernehmen kann, oder ob man nicht die Musik mit Zeitabstand anders empfinden muss, weil man heute einfach ein anderes musikalisches Bewusstsein hat, auch durch die Erfahrung mit der Musik, die es seitdem gegeben hat. Mich hat diese Frage viel beschäftigt: Wenn ein Komponist sein eigenes Stück dirigiert – ist das authentisch? Ich habe bisweilen den Fall erlebt, dass Dirigenten in meinen Werken Dinge völlig anders gesehen haben als ich selbst. Und ich habe mich bekehren lassen, dass Werke das innere Potenzial haben sollten, andere Lesarten zuzulassen. Ich setze seither den Begriff der Authentizität in Anführungsstriche. Vielleicht müssen die Stücke ja klüger sein als ihr Autor… Manchmal überlege ich mir, was sind meine zehn wichtigsten CDs, und da ist diese Aufnahme von Willem Mengelberg beständig dabei, weil sie so ein signifikantes Dokument ist, über das man lange philosophieren kann… Mahlers Anspruch, das Weltganze in seiner Musik abzubilden, mit diesem humanitären Anspruch auch offen zu sein für vorbestehende populäre Musik, zum ersten Mal in der Geschichte Musik über Musik zu schreiben – das bleibt Maßstab für jeden Komponisten, auch heute noch.
 

Webern: Fünf Sätze für Streichquartett op. 5
Emerson String Quartet 1993

aus: Complete Webern

Deutsche Grammophon

Webern ist am besten mit einem Wort Schönbergs zu charakterisieren, der über die Bagatellen gesagt hat: Welch eine Kunst, einen ganzen Roman mit einer einfachen Geste auszudrücken. Meine frühe Musik hat versucht, mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln dieses Spannungsfeld zwischen musikalischer Setzung und Stille aufzunehmen. Die Vorstellung, dass Klanggesten gleichsam Schatten werfen können, in die Stille hinein, und dabei den Hörer anleiten, rückzuhören, sich selbst zu beobachten. Stille ist ja auch Musik! Die Emanzipation der Stille – die ist durch Webern in die Musikgeschichte gelangt, es gibt ja keine Vorbilder für die Webernsche Musik. … Wenn man heute den ersten Ton eines neuen Stückes schreibt, kommt man nicht umhin zu sagen, da schwingt die ganze Musikgeschichte mit. Es gibt nichts genuin Neues mehr, was von der klanglichen Substanz, vom Material her nicht schon vorgedacht wäre. Das ist das Sig-num der Postmoderne, in der wir uns noch immer befinden – vielleicht auf der Suche nach einer zweiten Moderne. Aber dort werden die Kategorien nicht mehr darin bestehen, etwas genuin Neues zu erfinden, sondern vielmehr ein neues gesellschaftliches Bewusstsein anzulegen an das, was man tut. Weg vom Elfenbeinturm, hin zu einer Ausdruckskunst, die mitten in der Gesellschaft steht – schwer einzulösen, aber als Zielvorstellung wohl unerlässlich…
 

Widmann: …umdüstert…
Österreichisches Ensemble für Neue Musik 2004

(live von den Salzburger Festspielen)

NEOS

Jetzt betreten wir das Reich der Vierteltöne. (Klarinettensolo) Ist das eine spezielle Klarinette? Von der Klangfärbung her sehr besonders. Wenn man neue Werke beurteilen muss, ist ein genaues Studium der Partituren unerlässlich. Boulez hat allerdings mal gesagt, dass man bei jedem Werk nach drei Minuten Lektüre erkennen kann, ob es Qualität hat oder nicht, allein von der Geprägtheit des Notenbildes her, ohne dass man das Stück bis ins Letzte nachvollziehen muss. Da ist was dran. … Dieses Stück scheint längeren Zuschnitts zu sein, zwanzig Minuten? Es ist spannend, was jetzt, nachdem die Klarinette versunken ist, an ganz anderen Gestalten ins Spiel kommt. … Bemerkenswert ist die Vierteltönigkeit, die zu einem latenten Schwebezustand führt. Mit Vierteltönen muss man umgehen können, das kann leicht zu einer Ermüdung führen, aber hier ist es im Gegenteil spannend. Ich habe den Komponisten noch nicht geortet. … Ich müsste das Stück zumindest ganz gehört haben, und ich würde gern die Partitur hinzuziehen, um ein abschließendes Urteil zu fällen. Jetzt klingt es ein bisschen amorph, eine Musik, die sich nicht gestalthaft festsetzt. Widmann? Er hat einen sehr großen Kanon von Schreibweisen, das hier scheint mir nicht sein typischstes Stück zu sein. Ich habe mit ihm häufiger als Interpret zu tun gehabt – beim Mozart-Klarinettenkonzert, das er unvergleichlich spielt, und auch bei meinem eigenen Klarinettenkonzert Emanazione. Ein wunderbarer Musiker!
 

Schumann: Klavierkonzert F-Dur

rekonstruiert und orchestriert von Lev Vinocour (Klavier)

ORF-Sinfonieorchester Wien

Johannes Wildner (Leitung) 2009

RCA Red Seal

(3. Satz) Ein Kleinmeister des 19. Jahrhunderts, um 1850 vielleicht. Die Musik sequenziert erheblich… Das ist aber nicht das nullte Klavierkonzert von Schumann, oder? Da sind einige philologisch fragwürdige Dinge dabei, das Manuskript ist nur fragmentarisch, und jeder Versuch einer Rekonstruktion bedeutet auch Konstruktion. Jede Ersteinspielung Schumanns ist verdienstvoll, aber hier ist er noch nicht auf der Höhe seines Könnens, wirklich nicht. Schumann liebe ich sehr. Das ist eine der allerpersönlichsten Musiksprachen, die es gibt. Mit gestalterischen Momenten, die, weil sie bewusst an Grenzen stoßen und sie durchbrechen, auch aus der Perspektive der Neuen Musik von Bedeutung sind. Ich habe mich in meiner Berliner und Salzburger Zeit oft als Schatzgräber betätigt, bemüht um Wichtiges, was es wiederzuentdecken galt. Gerade auch Nebenwerke bekannter Komponisten, von Schumann etwa den ganzen Manfred, die späte Messe und Genoveva – das waren wichtige Erlebnisse und Erkenntnisse. Aber dieses frühe Klavierkonzert ist ein Grenzfall, das würde ich nicht dirigieren wollen.

Auch interessant

Rezensionen

  • Singender Erzähler und erzählender Sänger: Julian Prégardien
    Blind gehört Julian Prégardien

    „Das holt mich nicht ab“

    Tenor Julian Prégardien hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer singt.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!