Die Finnin Susanne Mälkki, Jahrgang 1969, ist eine der noch immer wenigen Star-Dirigentinnen. Sie war drei Jahre Solo-Cellistin der Göteborger Symphoniker, ehe sie an die Hochschule zurückkehrte, um Dirigieren zu studieren, bei Jorma Panula und Leif Segerstam in Helsinki. Inzwischen dirigiert sie die großen Orchester der Welt, auch bei den Berliner Philharmonikern war sie bereits zu Gast.
Frau Mälkki, welche Qualitäten muss ein Werk haben, dass Sie es dirigieren wollen?
Eine große Rolle spielt Neugier, Entdeckerfreude. Mir geht es in jeder Art von Musik um die Geste. Ein Musikstück ist kein Gemälde, Musik geschieht in der Zeit. Es gibt einen Anfang und ein Ende, und damit die Reise vom Anfang zum Ende interessant wird, muss es Kontraste geben, unterschiedliche Elemente, die in einem Gegensatz oder im Dialog miteinander stehen, es gibt verschiedene Charaktere und Farben. All diese Elemente sind, wenn man in eine Partitur schaut, je nach Komponist offensichtlich oder man muss nach ihnen suchen. Das ist besonders interessant bei Werken, die noch niemand aufgeführt hat.
Sprechen Sie mit dem Komponisten, wenn er noch lebt, über sein Werk? Und wie wichtig ist Ihnen, dass er zufrieden ist?
Es ist ein großer Luxus, wenn man fragen kann. Und natürlich ist es wichtig, dass der Komponist sein Stück wiedererkennt. (lacht) Als Musiker muss man loyal gegenüber der Partitur sein, aber es gibt keine objektive Interpretation. Ich bin immer wieder überrascht, wenn mir jemand sagt: Das war eine interessante Interpretation. Dabei habe ich doch nur gespielt, was in der Partitur steht und was der Komponist wollte, so wie ich ihn verstehe. Ich muss versuchen, die Intention des Komponisten zu treffen, und ich muss überzeugt sein von dem, was ich tue. Wenn beides zusammenkommt, funktioniert es.
Ist es Ihnen schon passiert, dass ein Komponist Ihnen zum Beispiel sagte, Sie sollten ein langsameres Tempo nehmen, aber Ihnen ging das gegen den Strich?
Meist passiert folgendes: Ich sage dem Komponisten, ich habe hier ein schnelleres Tempo gewählt, weil ich das Gefühl habe, das müsse so sein. Und er ist glücklich damit. Nach meiner Erfahrung sind die meisten Komponisten glücklich über Input von Seiten der Musiker. Das hat mich natürlich ermutigt, meinem Instinkt in diesem Bereich zu vertrauen. Es hat auch mein Denken verändert, was das ältere Repertoire angeht. Wenn da ein langsameres Tempo vorgegeben ist, als ich es wählen würde, muss ich versuchen zu verstehen, was der Komponist damit ausdrücken wollte. Und wenn es mir überhaupt nicht einleuchtet, wähle ich das Tempo, das mir richtig erscheint. Aber da gibt es keine Standard-Lösungen. Strawinsky und Bartók zum Beispiel verdeutlichen den Charakter der Musik nur durch die Tempi. Wenn man ihre Metronomzahlen exakt befolgt, entstehen unterschiedliche Charaktere innerhalb eines Stücks, das ist hochinteressant.
Sprechen Sie mit den Komponisten vor allem über technische Fragen oder über den tieferen „Gehalt“ der Musik?
Mir geht es um die Ideen. Ich bin keine Komponistin, ich finde es faszinierend, wenn ein Stück mit Sorgfalt und handwerklichem Geschick geschrieben ist – das sieht man sofort. Aber das ist nur die Oberfläche. Wenn ein Schriftsteller schöne Sätze schreiben kann, muss er noch lange keine guten Bücher schreiben können. Er muss auch etwas zu sagen haben. So ist es auch in der Musik.
Fühlen Sie sich in der neuen Musik nicht manchmal als lebendes Metronom?
Oft hat man einfach nicht genug Zeit, sich wirklich intensiv mit einem Stück vertraut zu machen, und dann ist es die Aufgabe des Dirigenten, das ganze zu organisieren. Das ist manchmal frustrierend. Wenn man ein Stück spielt, dass die Musiker kennen, können sie sich gegenseitig Impulse geben. Deshalb versuchen wir in Paris, Stücke so oft wie möglich ein zweites Mal aufs Programm zu setzen. Wenn wir mit der Sprache vertraut sind und nicht mehr nur buchstabieren, dann beginnt ein Stück zu leben. Dann kann sogar ein sehr komplexes Stück wirklich Musik werden. (lacht)
Sie dirigieren die ganze Bandbreite vom 18. Jahrhundert bis heute. Und doch gelten Sie als Spezialistin für neue Musik.
So fühle ich mich nicht. Das ist nur ein Teil, und ich möchte nicht einmal sagen, dass er der wichtigste ist. Ich dirigiere regelmäßig das 19. Jahrhundert. Ich bin Cellistin, ich bin aufgewachsen mit dem wunderbaren Kammermusikrepertoire, ich liebe meinen Brahms und all das. Neue und ältere Musik schließen einander nicht aus. Und ich liebe Programme, die alt und neu verbinden und die Kontinuität zeigen.
Viele Musiker sagen, man müsse sich spezialisieren.
Aber die einzelnen Musiker machen ganz unterschiedliche Sachen als Solisten oder Kammermusiker. Ich würde sogar sagen, die besten Musiker sind die, die am flexibelsten sind. Das bringt eine andere Dimension hinein. In manchen Stücken gibt es Referenzen an die Tradition, und die muss man erkennen, und man muss in der Lage sein, diesen traditionellen Klang oder worum immer es geht, umzusetzen. Das ist die Herausforderung bei neuer Musik. Ich finde die heutige Situation sehr interessant. Boulez gehört einer Generation an, die sehr strikt war und den Rest der Welt ausschließen wollte aus ihrer Musik. Das war ihre Lösung. Wer das heute noch tut, ist in meinen Augen überholt, selbst Boulez hat sich gewandelt. Aber ein Großteil des Publikums denkt noch immer, die neue Musik sei ein verschworener Kreis von hochmütigen Gestalten. Dabei sind die Musiker meines Alters, die guten zumindest, sehr kreativ. Die Musik ist in einer Phase der Synthese, es gibt keine Schulen mehr. Natürlich sollte sich ein Komponist Grenzen setzen. Strawinsky war am kreativsten, wenn er sich strikte Grenzen setzte, und in diesem Sinne ist es wichtig, dass sich ein Komponist nicht wie in einem Warenhaus an allem bedient. Aber in der gesamten Musikgeschichte sind die Komponisten beeinflusst worden von den verschiedensten Seiten.
Spielen Sie noch Cello?
Wieder. Einige Jahre habe ich wenig gespielt. Ich reise viel, und es ist einfach schwierig, das Cello im Flugzeug mitzunehmen. Jetzt spiele ich wieder oft, und ich genieße es, den Klang zu spüren, das ist wie eine Meditation. Aber ich glaube, ich werde nicht mehr auftreten als Cellistin.
Hilft es Ihnen beim Dirigieren, dass Sie Erfahrung als Orchestermusikerin haben?
Unbedingt. Ich weiß, welche Informationen die Musiker vom Dirigenten brauchen. Nur darum geht es. Zudem sind Orchester ganz besondere Gebilde. Es ist gut, wenn man einige von innen kennengelernt hat. Man versteht, wie sie funktionieren.
Beeinflusst es Ihr Klangkonzept, dass Sie von einem Bassinstrument herkommen?
Ganz sicher, deshalb hat sich mein Sinn für musikalische Struktur so entwickelt. Und der Klang der Streicher ist mir sehr wichtig.
Wann kamen Sie auf die Idee, Dirigentin zu werden?
Ich habe schon mit elf Jahren angefangen, im Orchester zu spielen, und war immer fasziniert, wie aus dem Chaos der ersten Probe mit der Zeit ein Stück entsteht. Als ich zum ersten Mal eine Partitur gesehen habe, schien mir alles klar und offensichtlich. Und als ich zum ersten Mal versucht habe zu dirigieren für einige Minuten, habe ich mich sehr wohl gefühlt. Aber der wirkliche Wunsch, Dirigentin zu werden, kam erst mit Mitte 20, als im Orchester in Göteborg anfing.
Ist das Dirigentenleben so schön, wie Sie es sich erträumt haben?
In den besten Momenten ist es besser. Aber es ist kein einfacher Beruf. Da ist nicht nur die Musik, die man lernen muss‚ das ist schon eine ganze Menge, (lacht) da ist auch die ganze Palette an menschlichem Verhalten, mit dem man umgehen muss. Es ist wie das Leben, man kann nicht auf alles vorbereitet sein. Man steht vor 100 Leuten und muss schnell Entscheidungen treffen. Und man hat eine große Verantwortung.
Welche Momente genießen Sie besonders?
Das Musik-Machen, das kann im Konzert oder in der Probe sein – wenn der Draht zum Orchester stimmt. Ich bin glücklich, dass ich inzwischen so viele großartige Orchester kennengelernt habe. Das ist wie im Zauberwald zu sein, man kommt manchmal aus dem Staunen nicht heraus. Und doch muss man sehen, dass man nicht abhebt, man ist immer noch für das Spiel verantwortlich. Man muss das Orchester spielen lassen und zugleich Impulse geben. Man muss Dinge geschehen lassen, und sie doch steuern.