Wie sieht Abgeschiedenheit in der Ferne aus – und was bedeutet sie für das Menschsein? Diese Frage nach der „Einsamkeit des Menschen in der Welt“ stellte Festivalintendant Tomasz Konieczny – wenn auch in anderen Worten – an den Beginn der dritten Ausgabe seines Baltic Opera Festival, dass seit dem 10. Juli nach Danzig und Sopot lockte.
Eine erste Möglichkeit bot eine choreografierte „Winterreise“, zu der der Bassist Łukasz Konieczny am 10. Juli in die Layup-Galerie auf dem Gelände der Danziger Werft einlud. Schuberts Liedzyklus gilt als geniales Zeugnis einer resignativen, bis zur Todessehnsucht tendierenden Grundhaltung, die aus der Einsamkeit heraus geboren ist – eine Qualität, die die Lyrik Wilhelm Müllers mit derjenigen Krzysztof Kamil Baczyńskis verbindet, eines Dichters, der am Warschauer Aufstand 1944 teilnahm und gegen die deutsche Besatzung kämpfte.

Brücken bauen zwischen polnischer und deutscher Lyrik
Konieczny stellte Baczyńskis Texte den Schubert-Liedern gegenüber – ergänzt um eine allegorische Bühnenchoreografie des Tänzers Boris Randzio, der als mutmaßliches Alter Ego des Sängers fungierte. Doch trotz der literarischen Tiefe und des gewaltigen Stimmvolumens verpuffte die Wirkung des Abends. Mit der Pirouette als stärkstem Ausdrucksmittel wirkte der Tanz ästhetisch längst überwunden, krampfhaft gewollt und wenig ernst – daran konnte auch das regelrecht lebensbejahende Klavierspiel von Nikolaus Rexroth nichts ändern.
Einen deutlich originelleren Ansatz verfolgte Alek Nowaks Oper „Die Stimme des Monsters“, die unter der Leitung von Yaroslav Shemet am 12. Juli im Danziger Opernhaus uraufgeführt wurde. Inspirationsquelle ist der Film „Hitlerjunge Salomon“, der das Schicksal Salomon Perels erzählt – eines deutschen Juden, der sich während des Zweiten Weltkriegs in der Hitlerjugend versteckte, um der Ermordung zu entgehen.
Nachts im Museum
Das Sujet, das sich eindrucksvoll mit der Frage nach Fremdsein in der eigenen Heimat auseinandersetzt, hätte für sich stehend ein maßgeblicher Beitrag zum zeitgenössischen Musiktheater sein können. Doch das Team um Regisseurin Agnieszka Smoczyńska und Librettist Robert Bolesto abstrahiert die starke Kernidee – und verlegt sie in die griechische Mythologie. Das Libretto erzählt nun von einem Museumskurator, der eine Ausstellung über die Sagengestalt Medusa vorbereitet und allmählich beginnt, sich in deren lebendiges Wesen einzufühlen.

Zwar klingt der Vergleich dieser Lebenswelten zunächst spannend, doch verdrängen die universellen, wenig greifbaren Archetypen das konkrete Einzelschicksal – das, gerade durch seinen realen Hintergrund, im polnisch-deutschen Kontext weitaus mehr berührt hätte.
Ein eigentümliches Musiktheater mit Mut zur Groteske entsteht dennoch: Nowaks Komposition erzeugt durch repetierende Streicher eine nervöse, misstrauische Spannung. Das Kammerorchester faucht und feixt – bleibt dabei aber größtenteils illustrierend. Versatzstückartige Hymnen in den Bläsern, die an das Liedgut der NS-Zeit erinnern, schaffen den Bezug zur ursprünglichen Vorlage. Ein etwas unglücklich durch KI generiertes Video mit skurriler Bildsprache reflektiert das Leben in der Hitlerjugend. Deren perverse Ideologie steigert sich mit widerlichen Männlichkeits- und Gewalttopoi bis ins Surreale.
Gesanglich irisierend trägt Countertenor Jan Jakub Monowid den Abend – in einem fast achtzigminütigen Monolog, in dem das Haupt der Medusa als Fetischobjekt so präsent bleibt wie das berühmte Heiligenhaupt in der tags zuvor zur Premiere gelangten „Salome“.

Auf ein gemeinsames Thema zulaufen
Winterreise, Flüchtlingscamp und nun Mutter und Kind als (Schutz)suchende. Spätestens jetzt wird deutlich, wie eng Intendant Tomasz Konieczny die einzelnen Festival-Events miteinander verzahnt hat. Klar ist auch: In der von Barbara Wiśniewska szenisch umgesetzten Fassung von Krzysztof Pendereckis „Lukas-Passion“ findet das Baltic Opera Festival in der Waldoper in Sopot seine musikalische wie inhaltliche Klimax.
Der Handlungsrahmen für das Oratorium wird durch Schauspielerin Anna Steller gesetzt, die als Mutter mit dem Sohn die Waldbühne erkundet. Was die beiden suchen, bleibt ungewiss. Doch ein gewaltiger Reisekoffer, der zum implementierten „Stabat mater“ entzündet wird, sowie Wärmedecken verweisen deutlich auf das Thema Heimatlosigkeit, auf die Suche nach Geborgenheit und Wärme – Werte, die scheinbar konträr zur stimmungsvoll inszenierten, aber dennoch kühlen Musik Pendereckis stehen.

Zwar begleitet ein Evangelist den Passionsbericht (eloquent und ruhig bis hin zur schnörkellosen militärischen Stringenz: Krzysztof Gosztyła), doch ist die Wirkung der „Lukas-Passion“ nicht mit Bach vergleichbar. Denn Penderecki verbirgt sein tiefgreifend katholisches Herzstück keineswegs: Harte, brutale Cluster erheben sich aus dem Piano, pulsieren und zerfallen auf dem Forte-Höhepunkt. Die Musik ist nicht narrativ, sie beschreibt und blickt mit musikalisch-nihilistischen Mitteln hinein in die größte Tragödie des Christentums.
Großartige Finalwirkung
Dirigent Bassem Akiki behält dabei souverän den Überblick – über Solisten, Chor, Kinderchor und großes Orchester, die breit über die Bühne verteilt sind. Sorgfältig verbindet Akiki die Sinfonia Varsovia, die bereits bei der „Salome“ durch expressive Gestaltungskraft überzeugte, mit einem exzellenten Chor, bestehend aus Ensembles unter anderem aus Danzig und Łódź. Dieser Chor singt nicht nur, sondern spottet, kichert und geifert. Die Choristen sind die aufgepeitschte Masse, die Christus verhöhnt – bis schließlich der Wald hinter der Bühne in ein feuerrotes Licht getaucht wird, als risse die Erde auf. Am Ende stehen sich beim „Stabat mater“ Bariton Adrian Eröd und Anna Steller gegenüber – er beträufelt sich mit Essig, sie mit Blut. Der Sohn, zunächst noch in Outdoor-Kleidung eines Suchenden, trägt nun ein rotes Shirt – die Farbe der Chorkinder, zu deren Gemeinschaft er nun zählt?

Einsamkeit in der Fremde, Heimatlosigkeit, Flucht – diese Themen beschäftigen die polnische Gesellschaft auf besondere Weise. Zerrissen zwischen christlicher Verpflichtung und realistischer Bewältigbarkeit ist eine eindeutige Antwort kaum möglich. Auch wenn nicht alle ästhetischen Mittel vollends glücklich gewählt sind, gelingt es dem Baltic Opera Festival, in einem reichhaltigen Programm aus Liederabend, frühmodernem und zeitgenössischem Klassiker sowie einer Uraufführung, das Thema zumindest auf künstlerischer Ebene facettenreich und konsequent zu beleuchten.