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Opern-Kritik: Bühnen Halle – Carmen

Hinter der vierten Wand

(Halle, 20.9.2025) Die Oper Halle startet mit einer düsteren „Carmen“-Inszenierung ihres Intendanten Walter Sutcliffe in die neue Spielzeit.

vonRoberto Becker,

Für regieführende Intendanten muss die Versuchung besonders groß sein, auch mal eine „Carmen“ zu inszenieren. Und damit abzuräumen, weil man das Publikum allein schon mit dieser Programmentscheidung auf seiner Seite hat. Außerdem hat das Stück ja seine Vorzüge, kann man hier doch eine Facette des Kampfes der Geschlechter um die Vorherrschaft in der Beziehung zwischen Männern und Frauen durchexerzieren, der auch nicht alle Tage vorkommt. In der Zeit um und nach der Pariser Uraufführung 1875 führte das zu heftigen Abwehrreaktionen der Meinungsführer des Patriarchats. Vor allem das rabiate Selbstbewusstsein der Titelheldin, die nicht nur liebt, wen sie gerade will, sondern auch macht, was sie will. Die Arbeit in der Zigarettenfabrik ist kaum mehr als Tarnung. Als Tänzerin in der Kneipe von Lillas Pastia ist sie der verführerische Star (mit exklusiven Spezialgästen) und auch bei den Schmugglern ist sie mehr als nur die weibliche Ablenkung der Posten, damit ihre Kumpane ungestört ihrem Gewerbe nachgehen können.

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Szenenbild aus „Carmen“ in Halle
Szenenbild aus „Carmen“ in Halle

„Carmen“: kompatibel mit der postemanzipatorischen Moderne

All das liefert jede Menge Steilvorlagen für szenische Befragungen ans Gestern und ans Heute. Dass ihr einer wie Don José im Handumdrehen mit einer hingeworfenen Blüte geradezu verfällt, ist da mehr eine Störgröße. Dass der aber in einer Weise dem Männlichkeitsideal um ihn herum verhaftet ist, der mit Carmens rabiatem Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht klarkommt, wird zur tödlichen Falle für sie. Und für ihn. Escamillo würde damit wohl klarkommen. Auf eine etwas schräge und verquere Weise sind die beiden mit einer postemanzipatorischen Moderne kompatibel. Nur leben sie halt nicht in dieser Zeit. Die Katastrophe des Frauenmordes aus Eifersucht und Besitzanspruch und aus unbeugsamem Freiheitsanspruch ist vorprogrammiert und tritt zum entsprechend eskalierenden musikalischen Crescendo auch ein. Der ausbrechende Jubel kurz nach dem Mord an Carmen und das unausweichliche Ende ihres Mörders wirkt immer ein wenig deplatziert. Gilt aber natürlich der Musik, den Protagonisten und dem packenden Grusel der Geschichte.

Szenenbild aus „Carmen“ in Halle
Szenenbild aus „Carmen“ in Halle

Vierte Wand bremst Mitgefühl und Empathie

Wenn in Halle Walter Sutcliffe jetzt die Spielzeit mit „Carmen“ eröffnet hat, ist das durchaus nachvollziehbar. Warum sollte ausgerechnet der Intendant auf einen Griff nach diesem zigfach bewährten Kassenfüller verzichten? Im speziellen Fall bietet sich ein Seitenblick nach Kassel an. Dort hat nämlich Sutcliffes Vorgänger in Halle, Florian Lutz, 2023 auch eine Carmen inszeniert. In einer der von ihm favorisierten Raumbühnen (Version: Antipolis) ohne vierte Wand konnte es einem passieren, dass man sich unter den Zigarettenarbeiterinnen auf der Bühne wiederfand. Man blieb auch weiterhin mitten im Geschehen, das dort erzählt wurde, und konnte so hautnah den Konflikt zwischen Arbeitermilieus und kapitalistischer Führungsriege miterleben. Das Publikum verblieb im Bühnen-Abenteuerpark. Carmen als Repräsentantin eines niederen Arbeitermilieus, bezeichnet als eine „Bohémienne“ als Gegenpol zur Bourgeoisie, jenseits von allen der Oper zugeschriebenen und heute mit Eifer eliminierten exotischen Klischees. In dem Punkt berühren sich die beiden Inszenierungen immerhin.

In Halle ist von Tänzerinnen die Rede, Frasquita und Mercédès sind zu kartenlegenden Verkäuferinnen avanciert. Was man sogar für Fortschritt halten könnte, wenn der Ausgangspunkt der Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe nicht mit Blick in die Vergangenheit wegzensiert worden wäre. In Halle ist die vierte Wand zwischen Publikum und Bühne zwar durchsichtig und durchhörbar, aber für Mitgefühl und Empathie nahezu undurchdringlich.

Szenenbild aus „Carmen“ in Halle
Szenenbild aus „Carmen“ in Halle

Überzeugende Solisten bis in die kleinen Rollen

Zum Glück liegt der Graben mit der von ihrem GMD Fabrice Bollon geschmeidig und temperamentvoll dirigierten Staatskapelle vor dieser Wand. Und liefert all die dräuende Atmosphäre samt Kinderchor, die Leidenschaft oder bloße sexuelle Gier, die eskalierende Eifersucht, die Leichtfertigkeit im Spiel mit den Gefühlen anderer, aber auch die Cleverness und Schlitzohrigkeit der Schmuggler sozusagen zum Einkaufspreis frei Haus. Dazu wird in Halle durchweg auf dem damit vorgegebenen Niveau gesungen. Das fängt bei der überzeugend ihren schlanken Mezzo einsetzenden Yulia Sokolik in der Titelpartie an und setzt sich beim dramatisch spürbar steigernden Chulhyun Kim als Don José fort. Auch Ki-Hyun Park verteidigt seinen Escamillo wacker gegen dessen szenische Degradierung zum Vorstadtboxer. Franziska Krötenheerdt wertet ihre Micaëla zu einer echten Carmen-Alternative auf, wofür wohl nur Don José keinen Blick hat. Alle kleineren Rollen sind dank ihrer handverlesenen Besetzung nicht zu übersehen: Ob Michael Zehe als ein Zuniga mit Sonnenbrille und in Mafia-Zivil, ob Linda van Coppenhagen (Frasquita) oder Rosamond Thomas (Mercédès) mit erfrischender Ausstrahlung in der allgemeinen Düsternis oder ob die präzise, den Schmuggel mit Pelzen, Pässen und wer weiß noch was organisierenden Gerd Vogel (Dancaïro) und Robert Sellier (Remendado) – was sie abliefern, das sitzt.

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Die von diesen beiden im Dunkel ihrer Machenschaften dirigierten erweiterten Chormassen hatten es schon in ihren Rollen im grauen Tageslicht zu Beginn nicht leicht, ihre Aktion szenisch nachvollziehbar zu beglaubigen. Sie waren aber von Frank Flade vokal präzise einstudiert. Das gilt auch für den Kinder- und Jugendchor, den Bartholomew Berzonsky einstudiert hat.

Szenenbild aus „Carmen“ in Halle
Szenenbild aus „Carmen“ in Halle

Betongraue Straßenschlucht wie aus einem Alptraum

Wenn Don José mit offener Lederjacke mit Zigarette im Mund langsam zwischen einer Flut von eingeblendeten Leuchtreklamen zur Rampe kommt, dann verfliegt schnell die Hoffnung, dass es an diesem Abend mehr optische Opulenz irgendeiner Art geben wird. Vor allem Frank Schönwalds Kostüme sind ein besonderer ästhetischer (Aus-)Fall. Die beiden grauen Betonwände bilden eine Art abstrakte Straßenschlucht aus einem Alptraum. Wo sich Müllberge türmen wie bei einem Streik der Straßenreinigung. Der Metzgerladen, in dem Schweinehälften präsentiert werden wird bei Bedarf zum Bordell.

Die weitere Bebauung dieses urbanen Alptraums beschränkt sich auf Container, die wie von Zauberhand verschwinden und auftauchen. Als Schauplatz des Mordes formen sie sich am Ende zu einem Arenarund. Diesmal wird Carmen hier auf offener Szene und nicht irgendwo davor umgebracht. Nach schwarzledernem Domina-Outfit, über ein revoluzzerndes bauchfreies T-Shirt und einer Schmugglerdienstkluft sieht sie wenigstens kurz vor ihrem Tod aus wie eine Carmen, die man sofort auch jenseits der zelebrierten Düsternis erkennen würde. Neben einem gerüttelt Maß an Ratlosigkeit gab es viel Applaus für alle Beteiligten.

Bühnen Halle
Bizet: Carmen

Fabrice Bollon (Leitung), Walter Sutcliffe (Regie), Kaspar Glarner (Bühne), Frank Schönwald (Kostüme), Conny Klar (Video), Frank Flade (Choreinstudierung), Bartholomew Berzonsky (Einstudierung Kinderchor), Patric Seibert/Toni Burghard Friedrich (Dramaturgie), Chulhyun Kim, Ki-Hyun Park, Gerd Vogel, Robert Sellier, Lars Conrad, Michael Zehe, Yulia Sokolik, Franziska Krötenheerdt, Linda van Coppenhagen, Rosamond Thomas, Maik Gruchenberg, Staatskapelle Halle, Chor der Oper Halle, Extrachor der Oper Halle, Kinder- und Jugendchor der Oper Halle






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