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Opern-Kritik: Bühnen Halle – Die Fledermaus

Vampirisches Vergnügen

(Halle, 11.11.2023) Der neue Dramaturg und Hausregisseur Patric Seibert emanzipiert sich erfolgreich von seinem einstigen Chef Frank Castorf und legt eine bissfeste Operettensause hin. GMD Fabrice Bollon behauptet sich gegen den opulenten Ausstattungswucher weitgehend erfolgreich und wird zum noblen Mittelpunkt des Abends.

vonRoland H. Dippel,

Es fledermaust diese Spielzeit an den deutschen Theatern ganz besonders stark. Die Bühnen Halle eröffnen eine Reihe von Neuproduktionen in Nürnberg, München, Leipzig, Gera. Etwas Besonderes ist das nicht: Denn Johann Strauss‘ im Schatten des Wiener Börsenkrachs und folgender Bankrotteure-Selbstmordkette am 5. April 1874 im Theater an der Wien uraufgeführter Bühnenhit hat immer Konjunktur. Der neue Dramaturg und Hausregisseur Patric Seibert, langjähriger Mitarbeiter von Frank Castorf unter anderem bei dessen Bayreuther „Ring“, setzt das in der Peripherie einer Großstadt spielende Ausbruchs- und Verkleidungsstück in ein ganz anderes Milieu.

Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle
Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle

Operette nach dem ersten Biss

Bei Seifert geht es um den ersten Biss und einen Tanz der Vampire bis zum offenen Schluss vor einer diabolischen Jahrmarktsbude. Das gelingt nicht ganz stichhaltig, machte aber trotz unterlassener sittengeschichtlicher Detailarbeit überwiegend großes Vergnügen. In Bestform war die Staatskapelle Halle unter GMD Fabrice Bollon, der hier die beim anderen Wiener Schmähstück „Der Rosenkavalier“ im Frühjahr 2023 begonnene Feinarbeit fortsetzt.

Das Stummfilmchen zur Ouvertüre enthält neben der Vorgeschichte, weshalb sich Dr. Falke am reichen Rentier Gabriel von Eisenstein rächen will, eine gewichtige Hallische Zutat: Als Falke da nach dem Besäufnis schlafselig auf der Parkbank liegt, naht sich eine Dame mit schwarzer Boa, saugt an seinem Hals und hinterlässt einen sauber modellierten Biss. Später wird klar: Das ist Ida, die Schwester von Eisensteins Stubenmädel Adele. Und schon flitzt die Vampirjägerin herbei, Barbara Dussler erweist sich später als Gefängniswärter(in) Frosch.

Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle
Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle

Das Portal zur Operetten-Seligkeit

Das Geschehen um die Haftstrafe Eisensteins, dessen Ausbüxen zum Ball des Prinzen Orlowsky, dazu die von Falke inszenierte Verkleidungs- und Verwechslungsburleske schnurren im Opernhaus Halle pointiert ab. Den Erwartungsrahmen einer konventionellen Operette übertreffen Dorota Karolczaks Büh-nenideen: Im Hintergrund ragt eine historisch nicht fixierbare Burg. Beim Ball des Prinzen Orlofsky erhebt sich der festgesellschaftliche Chor mit federnder Sangesleichtigkeit (Leitung: Frank Flade) aus den aufklappenden Särgen. Zwischen den Revuevorhängen thront über dem Fest eine Riesenorgel, als käme gleich das Phantom der Oper. Im dritten Akt schließlich bildet statt dem fidelen Kleinstadt-Knast ein Teufelsmaul das Portal zur Operetten-Seligkeit.

Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle
Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle

Verständnishilfen

Also gab es einige das frivole Moral-Tohuwabohu für die Gegenwart rechtfertigende Textzusätze. Das wiederum erklärt die Kettenreaktion, warum der zum Vampir gewordene Falke alle zu Vampiren machen will und diese letztlich auch nicht anders funktionieren als in ihrer menschlichen Feinmechanik. Am bewegten originalen „Fledermaus“-Geschehen ändert das nichts. Die Choreografin Sofia Pintzou bedient stilvoll das in diesem Stück seit Jahrzehnten klassische Ringelreihen-Gehopse, die Galopp-Einlage des Chors und des tänzerisch hervorragend eingebundenen Statisterie-Ensembles.

Auf Adeles und Orlofskys mit nekrophiler Zeitlupe gesungenes Polka-Duett aus der meist gestrichenen Ballettmusik folgt eine Rock-Einlage. Verfremdung muss sein. Adriana Braga Peretzki und Frank Schönwald haben mehreren Darstellenden heiter bis grobe Anleihen aus der cineastischen Vampirologie von Murnau bis Polanski zukommen lassen – vor allem in Schwarz, Gold, Weiß. Das macht Effekt.

Im dritten Akt holt Barbara Dussler als Frosch aus zu einem Exkurs über die Flüchtlinge aus dem früheren Kolonialkontinent Afrika nach Europa und die moralische Legitimität der Migrationsbewegung. Die beginnt ganz harmlos bei einem naheliegenden Bahn-Bashing und damit einer schon mal richtigen Kalauer-Linie. „Aufhören“ schallt es aus dem Zuschauerraum, danach „Wir haben für Operette bezahlt.“ Bis zum Schlussapplaus ist der Unmut vergessen. Der Applaus für das Produktionsteam ist nur eine Nuance schwächer als für die musikalische und spielerische Seite des dreistündigen Premierenabends.

Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle
Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle

Musikalisch-sängerisches Topniveau

Dieser kann sich bestens hören lassen, an der Spitze die beiden Protagonistinnen: Netta Or ist eine höhenstarke, leicht kapriziöse und dabei direkte Rosalinde mit gutturalem Edelstich im Timbre. Die Tirolerin Vanessa Waldhart spielt nicht die Adele, sondern ist deren ideale Inkarnation. Und dazu selbstbewusst bis in die offen ausgetragenen Körperlichkeiten mit ihrem Dienstherrn Eisenstein, gegen welche die Ehegattin Rosalinde offenbar nichts einzuwenden hat. Noch eine Spur herber als ihre noble Erscheinung macht sich Yulia Sokoliks Stimme für Prinz Orlofsky, den wenig dominanten Prinzipal im Ballhaus der Vampire. Andreas Beinhauer gibt einen schon unverschämt sympathischen Eisenstein, der über seine windige Schofeligkeit so locker dahin singt, dass man ihm alles verzeiht. Den mehr wendigen als windigen Falke gibt Frederic Mörth mit Comedian-Harmonists-Charme. Charlotte Vogel als Ida und Barbara Dussler als Frosch legen viel Fraulichkeit unter ihre dialektisch-bizarren Textaufgaben. Bei Chulhyun Kims Alfred sitzt die Erotik wirklich in der Stimme und er erhält auch reichlich Gelegenheiten, die zu vampirisierenden Damen durch hohe Töne schwach werden zu lassen. Gerd Vogel (Frank) und Robert Sellier (Dr. Blind) behaupten sich erfolgreich im Figurentrubel.

Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle
Szenenbild aus „Die Fledermaus“ an den Bühnen Halle

Was für eine vibrierend satte, elegante, und vor allem in den Streicherlinien hochsensible „Fledermaus“ von der Staatskapelle Halle erarbeitet wurde, geht hier in der vampirisierten Operetten-Legende manchmal unter. Fabrice Bollon beherrscht die feine Kunst der inspirierenden Begleitung. Gegen den opulenten Ausstattungswucher behauptet er sich überwiegend erfolgreich. Bollon erweist gerade deshalb sein hohes Können, weil er sich auf keinen Wettkampf zwischen Szene und Musik einlässt und dabei als nobler Mittelpunkt des Abends behauptet.

Bühnen Halle
J. Strauss: Die Fledermaus

Fabrice Bollon (Leitung), Patric Seibert (Regie), Dorota Karolczak (Bühne), Adria-na Braga Peretzki, Frank Schönwald (Kostüme), Sofia Pintzou (Choreografie), Frank Flade (Chor), Boris Kehrmann (Dramaturgie), Andreas Beinhauer, Netta Or, Gerd Vogel, Yulia Sokolik, Chulhyun Kim, Frederic Mörth, Robert Sellier, Vanessa Waldhart, Charlotte Vogel, Barbara Dussler, Chor der Oper Halle, Staatskapelle Halle






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