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MUSICAL-KRITIK: EUTINER FESTSPIELE – WEST SIDE STORY

Hormoneller Überschuss vs. Ewige Liebe

(Eutin, 4.7.2025) Leonard Bernsteins Musical-Evergreen berührt in der Neuinszenierung von Till Kleine-Möller durch pathosfreie Poesie. Die typgenaue jugendliche Besetzung begeistert.

vonPeter Krause,

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. William Shakespeare erzählte sie als größte Love Story aller Zeiten mit „Romeo und Julia“ im Verona des 16. Jahrhunderts. Leonard Bernstein versetzte sie 1957 mit seiner „West Side Story“ in prekäre Viertel des New York der Entstehungszeit und schuf damit eines der besten Musicals aller Zeiten. Die Eutiner Festspiele eröffneten nun ihre 74. Spielzeit mit der Premiere des Erfolgsstücks, das an Aktualität so gar nichts eingebüßt hat.

Sichtbares Zeichen dafür: Allerhand bunte Graffiti-Sprüche zieren die Treppenkonstruktion der Bühne, die Jörg Brombacher vor die naturgegebene Waldeskulisse gesetzt hat: Das Graffiti könnte so oder ähnlich im New York oder im Berlin der Gegenwart in all den Stadtteilen der sozialen Sprengkräfte zu finden sein. „Black Lives matter“ ist da auf einer Häuserwand ebenso zu lesen wie „White Power“; „Hass verblasst, Wahrheit bleibt“ steht da, „Just fierce, just fast, just Jets“ auf der einen Seite, „Sharks reign“ auf der anderen. Denn absolut unversöhnlich stehen sie sich gegenüber: die beiden Banden der weißen Einwanderer von einst – die Jets (die sich nun offiziell „richtige“ Amerikaner nennen dürfen) – und die Neuankömmlinge der Einwanderer von jetzt aus Puerto Rico – die Sharks (die ihren Platz in diesem mutmaßlichen Paradies, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, noch suchen).

Wir und die Anderen

Das Verblüffende dabei: Fast alles verbindet die beiden Gruppen – eigentlich. Sie teilen dieselben Träume, leiden an denselben Albträumen. Da ist diese diffuse Angst vor den Anderen und die Suche nach Identität, da herrscht die Präpotenz der Jugend, die Macht des Eros und seiner überschüssigen Energien, die sich in Gewalt entlädt, und der scheinbar unvermeidliche Gruppenzwang, die Konfrontation im körperlichen Kampf mit den Anderen zu suchen. Dazu kommen das soziale Abgehängtsein und die Perspektivlosigkeit, an der – ja, auch diese alte Geschichte ist immer neu – doch immer (nur) „die Anderen“ schuld sind. Leonard Bernstein, der Musiker jüdischer Herkunft und Einwanderersohn russischer Eltern, konnte mehr als ein Lied davon singen.

Szenenbild aus „West Side Story“
Szenenbild aus „West Side Story“

Neue „Street Credibility“ der „West Side Story”

Wie diese ewigen und immer wieder neuen Themen auf der stimmungsvollen und an diesem Abend wohl auch schönsten Naturbühne Deutschlands am Eutiner See unter freiem Himmel verhandelt werden, es berührt und schockiert zugleich. Denn Till Kleine-Möller bewirkt in seiner Neuinszenierung etwas Erstaunliches: Er gibt dem Stück seine „Street Credibility“ zurück, die es in den unzähligen Wiederholungen, Tourneen und Wiederaufnahmen der Uraufführungsproduktion von Jerome Robbins zu verlieren drohte.

Die nostalgische Niedlichkeit eines märchenhaften „Es war einmal in Amerika“ verband sich denn doch zunehmend mit dem entlastenden „So schlimm ist das Leben heute nicht mehr.“ Nur leider ist es eben noch immer so schlimm. Leonard Bernsteins zündende Melodien, sein Mix der Musikstile, der Takt- und Tanzarten – den beiden portraitierten Gang-Kulturen pointiert zugeordnet – gehen noch immer in die Beine. Bedenklich wird es nur, wenn die Schönheit und Romantik der zu Gassenhauern geronnenen und zum Mitsummen einladenden Songs stärker wahrgenommen wird als die Krassheit und Wahrhaftigkeit ihrer Botschaft.

Krasse Körperlichkeit und Heutigkeit

Von diesem Risiko gibt es hier nun keine Spur: Die Eröffnungspremiere der Eutiner Festspiele 2025 bewirkte eine veritable Frischzellenkur des Bernstein-Evergreens. Das hat viele Gründe. So gleicht die Choreographie von Timo Radünz eben keiner demütigen Kopie des Originals, sondern nutzt die relativen Freiheiten, die der Verlag den Interpreten zugesteht. Für Tanzszenen und Kostüme in Personalunion verantwortlich setzt Timo Radünz auf eine Individualisierung der Figuren, die sonst eher in den Kollektiven der beiden Gangs untergehen. Offiziell muss ja alles in den vorgeschriebenen 1950ern spielen, doch trägt da ein junger Jet nicht eine Highschool-Jacke mit dem Sticker „1989“?

Jedenfalls entfesselt der Choreograph eine krasse Körperlichkeit und Heutigkeit, von denen die realistischen Kampfszenen deutlich profitieren. Sie wirken aber auch so authentisch, weil die Darstellerinnen und Darsteller der Jets und der Sharks von echter Jugendlichkeit sind, also nie so tun als ob. Tänzerisch und schauspielerisch haben sie alle eine pralle Präsenz und einen umwerfenden Charme, sängerisch nutzen sie die musical- und poptypische Belt-Technik. Vokale Vergleiche mit der legendären Einspielung unter Lennies eigener musikalischer Leitung mit den für das Werk eigentlich untypischen Opernstars José Carreras und Kiri Te Kanawa verbieten sich also.

Szenenbild aus „West Side Story“
Szenenbild aus „West Side Story“

Typgenaue junge Besetzung

Die Eutiner Besetzung könnte typgenauer kaum sein. Da ist die blendend schöne Meera Varghese als Maria, die sich als Femme fragile von den strengen elterlichen Rollenbildern und Erwartungen einer Beziehung mit einem Mann aus den eigenen Reihen emanzipiert. Ihren Signet-Song „I feel pretty“ muss sie auf Deutsch singen, der mit der Zeile „Ich seh‘ gut aus“ nicht wirklich die Poesie des Amerikanischen erhält. Aber der Verlag lässt Aufführungen in deutschsprachigen Ländern mittlerweile nicht mehr in eigentlich wünschenswerten Mischfassungen zu: deutsche Dialoge und englische Songs wären die ideale Lösung, um Textverständnis und musikalische Magie in Einklang zu bringen. („Tonight“ klingt einfach so viel besser als „Heut’ Nacht“.) 

An Vargheses Seite ist Florian Minnerop als Tony ein zartstimmiger Nice guy, der in seiner weißen Hose Bella figura macht, das kalte Händchen seiner Maria wie Dichter Rodolfo in „La Bohème“ zu wärmen sucht. Diabolisch, bedrohlich und verführerisch, im Muscle Shirt seine virile Körperlichkeit demonstrierend, gibt Robert Lankester seinen alten Freund Riff als Anführer der Jets, die er mit Nachdruck auf Vorurteilskurs gegen die Sharks hält. Counterpart auf der Seite der Eindringlinge von der Insel ins eigene Revier ist Davide dal Seno als Latin Lover-attraktiver Bernardo. Die tollste Stimme des Abends gehört der umwerfenden Kerry Jean als Marias Freundin und Bernardos Partnerin Anita.  

Szenenbild aus „West Side Story“
Szenenbild aus „West Side Story“

Perfektes Timing – auch den starken stillen Momenten

Till Kleine-Möllers perfektes Regie-Timing verbindet das famose Ensemble hochspannend – und dies nicht nur in vorherrschenden schnellen Szenen: Starke stille Momente den Nachsinnens über den Wahnsinn der Gewalt und die Utopie eines friedlichen Miteinanders der Kulturen berühren tief – etwa wenn Maria wie weiland Julia auf ihrem Veroneser Balkon oben am Angel of the Waters steht, den Bühnenbildner Jörg Brombacher von der im New Yorker Central Park befindlichen Bethesda Terrace and Fountain inspiriert nachgebaut hat, und Tony sie auf den Treppen darunter anhimmelt. Die Poesie derart großer Augenblicke – auch der Schwur ewiger Liebe des Paars gehört dazu – verkommt dabei nie zum Pathos.

Die Authentizität der Produktion ist bestechend. Zu ihr trägt auch Dirigent Christoph Bönecker bei, der mit dem Festspielorchester Eutin stilpräzise zu differenzieren weiß. Vor den ersten Bernstein-Takten eröffnete Ministerpräsident Daniel Günther und stolzer Schirmherr die Festspiele an der Seite von Festspielgeschäftsführer Falk Herzog launig und bestens gestimmt. Er verriet auch bereits die beiden Hauptwerke der Jubiläumsspielzeit 2026, wenn die 75. Ausgabe der Eutiner Festspiele ansteht: Puccinis Schwanengesang „Turandot“ und das hippiebewegte Musical „Hair“. In diesem Sommer folgt noch die Premiere von Mozarts „Die Zauberflöte“. Der Vorverkauf läuft so gut wie seit Jahren nicht mehr. Es sind bereits mehr als 40.000 Tickets verkauft.

Eutiner Festspiele
Bernstein: West Side Story

Christoph Bönecker (Leitung), Till Kleine-Möller (Regie), Timo Radünz (Choreographie), Jörg Brombacher (Bühne), Timo Radünz (Kostüme), Florian Minnerop, Meera Varghese, Robert Lankester, Davide dal Seno, Kerry Jean, Bruno Vida, Ensemble, Festspielorchester Eutin






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