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Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Don Carlos

Vom Zauber des historischen Heute

(Genf, 15.9.2023) Die Schärfung der politischen Implikationen des Verdi-Werks in der fünfaktigen französischen Fassung – bei Beachtung der genuinen Magie der Musik – schafft Regisseurin Lydia Steier fast ganz ohne erhobenen Regiezeigefinger. Auf der Bühne steht so etwas wie eine sängerische Idealbesetzung.

vonPeter Krause,

Ein Regieteam legt listig falsche Fährten. Denn die beiden klassizistischen Säulen, die im initialen Fontainebleau-Akt den mittigen Treppenaufgang säumen, und der idyllische Waldesprospekt im Hintergrund, täuschen Tradition und eine ihr entsprechende Inszenierung nur vor. Regisseurin Lydia Steier und ihr Team um Bühnenbildner Momme Hinrichs und Kostümdesignerin Ursula Kudrna haben es freilich auch gar nicht vordergründig nötig, Giuseppe Verdis Schilleroper „Don Carlos“ zwanghaft in die Gegenwart zu katapultieren.

Sie erzählen die Geschichte um die idealistisch freiheitsliebenden Freunde Posa und Carlos, die repressiven Repräsentanten der alten Ordnung von Staat und Kirche, König und Großinquisitor, und die um die Liebe des spanischen Infanten konkurrierenden Frauen Elisabeth und Eboli auf den ersten Blick gradlinig und mit ausgeprägter Anteilnahme für die Schicksale aller Figuren. Da merkt man ein ehrliches Vertrauen in das Werk, das am größten schweizerischen Opernhaus in der ursprünglichen Version als französische Grand Opéra in fünf Akten auf die Bühne kommt, nahezu so, wie Verdi es 1867 in Paris für die Uraufführung probte.

Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève

Private Passion kontra politische Pflicht

Die spätere italienische – und heute meistgespielte – Fassung wirkt demgegenüber fast wie ein Torso voller Kompromisse, in dem sich der Meister aus Roncole bei Parma durchaus dem Geschmack seiner Landsleute anpasste: Da sollte es in den Aufführungen in seiner Heimat eben munter von Arien- zu Duetthöhepunkten kommen. Der dramatische Spannungsbogen wie die Logik der Leitmotive, deren Wiederkehr und Wandlung, aber geraten in der Urfassung weitaus zwingender. Zumal die psychologischen Beweggründe der Figuren wirken hier weitaus stärker, im besonderen natürlich die im ersten Akt vermittelte Vorgeschichte, in der sich Carlos und Elisabeth als jugendliches Liebespaar finden dürfen.

Berührend wird deutlich, wie ihre private Passion durch die politische Pflicht der anbefohlenen Heirat der französischen Prinzessin Elisabeth mit dem spanischen König Philipp – somit dem Vater von Don Carlos – schon zu Beginn zunichte gemacht wird, weil die Staatsraison es erfordert und der Frieden zwischen den Kriegsparteien so eine Chance erhält. Stimmiger lässt sich zudem die Genfer Saison nicht eröffnen, die ja als Ganzes unter dem Motto „Machtspiele“ steht. Die Ehe für den Frieden ist ein Bündnis gegen die Liebe.

Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève

Klug gesetzte Stachel der Zuspitzung

Die Schärfung just der politischen Implikationen des Werks – bei Beibehaltung und Beachtung des genuinen Zaubers und der Magie der Musik – aber schafft Lydia Steier fast ganz ohne erhobenen Regiezeigefinger: Die in Deutschland für ihren Beruf sozialisierte Amerikanerin behauptet nicht, klüger als das Werk und deren Schöpfer zu sein, aber sie setzt genau da klug die Stachel der Zuspitzung, wo es das Stück verträgt, ja, wo es das Stück nachgerade zu verlangen scheint, um das Publikum im Ergebnis aus seiner kulinarischen Wohlfühlhaltung herauszuführen und um es auf die bleibenden Zumutungen aufmerksam zu machen, die in der mehrfach brutalen Geschichte stecken.

Den klassizistischen Rahmen der Bildwelten sprengt sie dazu bereits zu Beginn. „La vie est dure“ singt der Chor der geschundenen, vom Krieg zwischen Frankreich und Spanien geschundenen Bevölkerung – und wir wähnen uns sogleich in einem naturalistischen Drama wie Victor Hugo „Les Miserables“. Ein „Verräter“ unter den ihren wird nicht nur – wie einst den deutschen Juden im „Dritten Reich“ – ein Schild mit der Aufschrift „traitre“ um den Hals gehängt, der Mann wird sogleich zur maximalen Abschreckung von potentiellen Nachahmern aufgeknüpft und baumelt dann fast den ganzen ersten Akt über der Bühne, auf der zunächst ja noch die wunderbare Liebeständelei von Elisabeth und Carlos verhandelt wird. Solche Bilder sitzen.

Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève

Der große Lauschangriff eines übergriffigen Systems

Deutlicher noch wird Lydia Steier, wenn sie die Unmöglichkeit von echter erfüllter Privatheit durch den großen Lauschangriff eines übergriffigen Systems zeigt, das zwischen Stasi-Überwachungsstaat und faschistischer Kontrolle des Einzelnen changiert. Die Vertreter der katholischen Kirche – als triftige Übersetzung der Allmacht des blinden, aber allwissenden Großinquisitors – fungieren als Werkzeuge dieses Unrechtsstaats, den man in den kommunistischen Diktaturen der Sowjetunion ebenso wiederkennen kann wie in den rechten Gewaltsystemen des spanischen Machthabers Franco oder des deutschen Nationalsozialismus.

In den Kostümen gibt es Anspielungen an die französische Resistance, Elisabeths Page (die junge Mezzopranistin Ena Pongrac) könnte sich ihr verbunden fühlen. König Philipp, dem Dmitry Ulyanov die rau-gewaltige Präsenz seines Basses verleiht, könnte indes ein mit multiplen Orden behängter russischer General mit ausgeprägter Stalin-Nähe sein. Dennoch desavouiert die Regisseurin ihn nicht. Seine Arie „Elle ne m’aime pas“ ist in Genf weniger Anklage an Elisabeth, die ihn lieben muss, aber nicht kann, als Ausdruck der Selbstzweifel eines Herrschers, der aus der brutalen Rolle seines unheiligen Königtums nicht mehr herauskommt. Dieser Täter ist selbst ein Opfer, das eine Rolle weiterspielt, an die er im Innersten wohl selbst nicht mehr glaubt.

Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève

Die(se) Geschichte wiederholt sich

Derlei Vielschichtigkeit zuzulassen und in der Personenregie, besonders in den das Stück prägenden Duetten, subtil und unaufdringlich auszuarbeiten, ist das große Verdienst dieser Inszenierung, die das Stück – schön dialektisch – in einem historischen Heute verortet und so die bittere Botschaft vermittelt: Die(se) Geschichte wiederholt sich. Winzig kleines Hoffnungszeichen ist das werdende Kind, das Elisabeth bei Lydia Steier in sich trägt und am Ende unter großen Wehenschmerzen zur Welt bringt. Sein königlicher Vater hält es dann, wie schlechte Herrscher das in den Diktaturen so tun, triumphierend in die Höhe, um den eigenen dynastischen Anspruch auf die Gestaltung von positiver Zukunft tränentreibend zu untermauern. Aber vielleicht setzen sich in dem kleinen Wesen ja die Gene seiner Mutter durch? Und es wächst ein neuer Freiheitskämpfer heran.

Mehr als nur ein sängerisches Ereignis

Nahe der sängerdarstellerischen Vollendung ist die Besetzung. Charles Castronovo ist ein gar nicht so verträumter Infant, seinem Tenor, bei dem man an eine Mischung des jungen Aragall wie des junges Carreras denkt, tut die französische Fassung sehr gut, erlaubt sie ihm doch, die emotionalen Extremausbrüche (die im Italienischen oft einer gefährlichen Grenzerfahrung gleichen) zu sublimieren. Seiner Elisabeth schenkt die Sopranistin Rachel Willis Sørensen dazu passende Pianissimi von himmlischer Leuchtkraft, die Amerikanerin geht die Partie lyrischer an, als sie in der italienischen Version tun würde. Eve-Maud Hubeaux als ihre Gegenspielerin in Liebesdingen räumt mit ihrem leichtgängigen wie substanzintensiven Mezzo nicht nur ab, sie räumt auch mit dem Vorurteil ab, die Partie müsse man geifen und brüllen. Ein Ereignis.

Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Don Carlos” am Grand Théâtre de Genève

Ein idealer französischer Posa ist Stéphane Degout, der mit seinem schlackenlos schlanken Bariton ein unfasslich glaubwürdiger, dabei nie vokalmanierierter Kämpfer für die Idee der Gedankenfreiheit ist. Liang Li ist der erwartungsgemäß bassdüstere Großinquisitor. Der Chor des Grand Théâtre de Genève beweist einmal mehr seinen klangprallen Ausnahmerang. Das Orchestre de la Suisse Romande spielt mit dunkel und warm abgetönter Exzellenz, man meint allerdings oftmals, es habe die italienische Fassung einstudiert. Marc Minkowski, der am Pult steht, hat zu wenig an genuin französischer Feinheit, Eleganz und Clarté, an artikulatorischer Finesse und drängenden Tempi gearbeitet. Das verwundert insofern, kommt der Maestro doch aus der Historischen Aufführungspraxis der Alten Musik. Der Weg zu einem authentischen Verdi-Klangbild darf also noch beherzt ausgeschritten werden.

Grand Théâtre de Genève
Verdi: Don Carlos

Marc Minkowski (Leitung), Lydia Steier (Regie), Momme Hinrichs (Bühne & Videos), Ursula Kudrna (Kostüme), Felice Ross (Licht), Maxine Braham (Bewegung), Allan Woodbridge (Chor), Charles Castronovo, Dmitry Ulyanov, Rachel Willis Sørensen, Stéphane Degout, Eve-Maud Hubeaux, Liang Li, Ena Pongrac, William Meinert, Julien Henric, Giulia Bolcato, Raphaël Hardmeyer, Benjamin Molonfalean, Joé Bertili, Edwin Kaye, Marc Mazuir, Timothée Varon, Iulia Elena Surdu, Chor des Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande

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