Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Doku-Oper mit sanften Klängen

Opern-Kritik: Kunstfest Weimar – Ganz unten (UA)

Doku-Oper mit sanften Klängen

(Weimar, 26.8.2025) Politisch, präzise und subtil: Die Uraufführung von Sabri Tuluğ Tırpans Doku-Oper „Ganz unten“ lotet den auf Migranten lastenden Arbeits- und Gesellschaftsdruck der 1980er Jahre aus – nüchtern inszeniert, mit eindringlicher Humanität.

vonRoland H. Dippel,

Beim siebten und letzten von Rolf C. Hemke geleiteten Kunstwerk Weimar dominieren eindeutig politische Themen und Projekte. Gedenken an den Holocaust, ein Stück über die ökologische Ressourcenplünderung im Turbokapitalismus, Gewissenskonflikte im Rechtsruck und Brückenschläge zum Themenjahr „Faust“ der Klassik Stiftung Weimar. Das Deutsche Nationaltheater und die Staatskapelle Weimar sind dieses Jahr aufgrund des Intendanzwechsels von Hasko Weber auf Valentin Schwarz vor allem mit dem technischen Equipment beteiligt.

Der Zeitraum des Kunstfests Weimar 2026 unter der neuen Doppelspitze mit Katharina Germo und Juliane Hahn wird alsbald publiziert. Ein bemerkenswertes Buchenwald-Konzert in der Herderkirche beinhaltete Brahms‚ „Ein deutsches Requiem“ mit Capella Crocoviensis und der israelischen Sopranistin Chen Reiss. Irina Scherbakowa, Friedensnobelpreisträgerin und Schirmherrin des Kunstfestes, erinnerte in ihrer Rede beim Buchenwald-Konzert nachdrücklich an politische Verfolgungen von Oppositionellen, Agierenden und Randgruppen in ihrem Heimatland Russland. Sie warnte nachdrücklich vor längeren Reibungspunkten trotz der aktuellen Annäherung zwischen den Nationen. Die Opern-Uraufführung zum Kunstfest 2026 thematisierte Torturen der Arbeitswelt in den letzten Jahren der Bundesrepublik vor dem Fall der Mauer.

Dezentes Zeitgemälde

Wie ist der passende Sound für eine Investigativ-Reportage? Beim Komponisten Sabri Tuluğ Tırpan und dem von ihm mit dem Geiger Bora Gökay und dem Cellisten Burak Ayrancı gebildeten Trio hat er eine Nuance von Songs aus Kurt Weills deutschen Bühnenwerken, etwas Atmosphäre à la Erik Satie und akademische Gründlichkeit.

Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar
Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar

Trotzdem ist das Projekt einer Doku-Oper mit einem horriblen Sujet vom beginnenden Niedergang des deutschen Wirtschaftswunders – wie zur leider bei weitem nicht ausverkauften einzigen Vorstellung im Kunstfest Weimar – ein Muss. Denn hier positionieren sich nicht die Verursacher des sozialen Drucks, sondern die Kinder jener Gastarbeitender- und Migrierenden-Generation, ohne die Westdeutschland sich nie in die vorderste Reihe der Industrie- und Exportnationen hätte hochschleusen können.

Die plakative Szenenfolge der Oper von Sabri Tuluğ Tırpan und Mehmet Ergen kommt ganz ohne Aggressionen aus, verzichtet aufs Lamentieren und spiegelt die 1980er Jahre nüchtern, ja fast schüchtern. Die Bühne der Redoute im Norden Weimars, der zukünftigen Vollspielstätte während der angekündigten Sanierungsphase des Deutschen Nationaltheaters, ist schwarz. Die den bundesrepublikanischen Zeitgeist der Vorwendejahre sacht spiegelnden Kostüme von Defne Özdoğan und das monoton flächige Licht machen sparsam eine dichte, aber wenig suggestive Atmosphäre. Dabei stilisierend und realitätsnah. Eine saubere Armut wird sichtbar und das Licht von Richard Williamson wirkt leicht schmutzig.

Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar
Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar

Direkter Humanismus

Bei Festivals mit internationalen Gastspielen fällt immer auf, dass Stücke mit klaren politischen Anliegen eine inhaltlich und ästhetisch klare Sprache nutzen. Das trifft auf Mehmet Ergens Regie zu. Diese ist für sechs Darstellende in den vielen Rollen übersichtlich strukturiert, deutlich und leise. Die Theatermittel schließen kabarettgemäße Tanznummern ein. Der Autor Günter Wallraff und die von diesem für die Recherchezüge selbst verkörperte Prekariatskunstfigur Ali sind in zwei in ihrer Physiognomie sehr unterschiedliche Darsteller aufgespalten. Der schlanke Günter Wallraff (Ryan Wichert) mit Brille kommentiert, reflektiert, räsoniert. Der größere, leicht bullige und vom Arbeitsstress bald entpersönlichte Ali (Bural Bilgili) agiert langsam und damit langsamer als die ihn permanent ausbootende Umwelt.

Für Wohlstandsdeutschland aber war Wallraffs Report über die zynischen Türkenversuche, weil billiger als Tierversuche, und die mit hohem Krebsrisiko verbundenen Wartungsarbeiten in den mit radioaktiven Dämpfen verseuchten Rohrgängen der Atomkraftwerke ein Informationschocker. Wallraff durchbohrte gut gepolsterte Verdrängungen. Heute sind die Wissensbarrieren um Glanz und Elend des Turbokapitalismus weiter verbreitet als damals. Die Videos und Fotodokumente aus den 1980-er Jahren machen die krasse Faktenfülle von Text und Oper leider etwas klein, wirken wie staunendes und affektives Studierendentheater angesichts einer die Spielenden überwältigenden Welt. Güvenç Dağüstün, Lou Strenger, Ömer Cem Çoltu und Talha Kaya sind höchst engagierte, emotional präsente und agile Darstellende für das keineswegs einfache Choreografie-Design von Beyhan Murphy und Mert Öztekin.

Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar
Szenenbild aus „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar

Trotzdem: Die Härten und Spaltungen von heute sind mindestens ebenso sozialdarwinistisch, menschenfeindlich, unachtsam und perfide wie vor 40 Jahren. Weil Wallraffs publizistisch-detektivischer Meilenstein deshalb noch immer relevant ist, bleibt die Uraufführungsproduktion etwas harmlos. Viel Applaus und Anerkennung für die Mitwirkenden, auch vom koproduzierenden Goethe-Institut und Istanbul Music Association.

Kunstfest Weimar
Sabri Tuluğ Tırpan: Ganz unten

Sabri Tuluğ Tırpan (Komposition & Leitung), Mehmet Ergen (Regie), Defne Özdoğan (Bühne & Kostüme), Beyhan Murphy (Bewegungsregie), Richard Williamson (Licht), Emir Gülerhan (Video), Mert Öztekin (Bewegungscoach), Burak Bilgili, Güvenç Dağüstün, Lou Strenger, Ryan Wichert, Tuncay Akpınar, Talha Kaya

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!