Grünlich eingefärbter Nebel kriecht über den Bühnenboden des Staatenhauses Köln, tränkt die Szenerie in fahles Licht. Nur die golden schimmernden Spitzen von Bombenhülsen ragen noch aus dem Dunst, während die Verwundeten und Toten in den giftigen Schwaden zu verschwinden scheinen. Über allem rollt die Silhouette eines jener archaisch-grotesken Mark-Panzer, die einst durch ihre monströse Erscheinung Berühmtheit erlangten. Regisseur Nicolas Stemann findet für seine Inszenierung von „Die letzten Tage der Menschheit“ an der Oper Köln drastische Bilder – viele davon. Dicht aneinandergereiht, eindrucksvoll, oft bedrängend. Bilder, die sich eng mit der Musik verzahnen – und doch nicht immer die richtigen sind.
Wien oder Schützengraben?
Der erste, knapp hundertminütige Teil widmet sich dem fünfaktigen Schauspiel Karl Kraus’. Stemann sah hier allerdings mehr Erich Maria Remarque oder Louis-Ferdinand Céline. Die beschreiben in ihren Werken den Krieg und die Gewalt unmittelbar aus dem Schützengraben und der (West)Front heraus. Doch Kraus legt den Fokus auf die Heimatfront. Dort liegt die Perfidität der Gesellschaft und die Stärke des Werks. Er hört den Menschen im Wien der Kriegsjahre zu, notiert Militärdepeschen, Zeitungspropaganda, patriotische Phrasen und den selbstgerechten Zynismus einer Zivilgesellschaft, die mit Parolen, Mitmachpatriotismus und dummen Sprüchen zur Legitimität der Gewalt unter den Völkern animiert und der Kriegsmaschinerie mit verbaler Kohle den ideologischen Brennstoff liefert.

Starke erste Bilder
Diese Groteske gelingt zunächst eindrucksvoll. Der Trauerzug für den Erzherzog Franz Ferdinand mit Kandelaber, der Chor als von allen Seiten auf die Bühne drängende, euphorische Habsburger Bevölkerung. Besonders stark: ein Priester, der die christliche Nächstenliebe kurzerhand im Ringen der Völker suspendiert und sich gern selbst an der Kanone sieht. Frei nach dem Motto: Aus Schrapnellen flechten wir Rosenkränze, aus Kirchenglocken gießen wir Kanonen.
Wie bei Kraus gibt es keine klassischen Figuren, sondern Rollen: Typen. Der Nörgler und der Optimist etwa, die mit gegensätzlicher Haltung den Zeitgeist kommentieren – entweder verklärend oder sarkastisch. Stemann und Komponist Philippe Manoury, die ihre Produktion als „Thinkspiel“ bezeichnen – in Anlehnung an das Singspiel – durchziehen den Abend mit gesprochenen Dialogen. Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg verleihen diesen Rollen herrlich überhebliche Arroganz und liefern markante Pointen, durchzogen von dem lang ersehnten Wiener Schmäh, der im Gesang freilich nicht tragen würde.

Klanggewitter und kristalliner Staub
Für die Musik fährt Manoury ein imposantes Arsenal auf. Ein großes sinfonisches Orchester samt Klavier, Schlagwerk und Keyboards, zwei bläserreiche Fernorchester hinter dem Publikum sowie Elektronik. Die sinfonischen Vorspiele entfalten sich allmählich, fast spätromantisch, aus dunkler Tiefe ins Tragische. Auch die massiven Chorszenen sind zunächst nicht überbordend komplex. Besonders die elektronischen Klänge – kuratiert durch das dem Komponisten nahestehende IRCAM – fügen sich kristallin über den analogen Klang, als feiner, glitzernder Staub.
Peter Rundel beweist als großartiger Neue Musik-Experte seine Meisterschaft im Führen eines weitläufig verteilten 360°-Ensembles. Mit sicherer Hand zieht er die Fäden durch Manourys mal schreiende, mal verstummende Partitur, lässt apokalyptische Drohgebärden aus der Ferne aufglimmen.

Anspruchsvolle Sängerpartitur
Weniger überzeugend geraten die Sängerpartien. Manoury verliert hier an kompositorischer Klarheit: Zu oft münden die Gesangslinien in unkontrolliertes Geschrei, besonders in den oberen Registern fehlt es an gestalterischem Esprit. Komisch angelegte Rollen – etwa Soldaten im Falsett – verlieren an Wirkung. Die versprochenen Reminiszenzen an Debussy, Bartók oder Mahler (nicht als Zitat) suchte man am Premierenabend vergebens. Auch das exzellent agierende Kölner Hausensemble, das mit bemerkenswerter Hingabe und Bühnenpräsenz überzeugt, kann den Mangel an ariosem Ausdruck und der überbordenden Textlast nicht ganz auffangen.
Ein Engel mit Englischhorn
Einzig die gastierende Anne Sofie von Otter hat Manoury mit der hinzugedichteten Figur des Angelus Novus eine dankbare Rolle zugestanden. Der Angelus bricht die Bühnenhektik auf, ist retardierendes Moment. Er ist Omen und Bewältigungstherapeut zugleich. Sein Instrument ist das unschuldig melancholische Englischhorn, welches auf von Otters deklamatorisch wahrlich großen Mezzosopran trifft. Von einem auf das Minimum reduzierten Orchester umrahmt, singt sie das Unvermeidliche: eine Offenbarung der Verzweiflung. Und das am Ende verstummend, sogar lautlos ohne Stimme. Ein Höhepunkt des Abends.

Über die letzten Tage der Menschheit hinaus
Leider bleibt der zweite Teil – etwa sechzig Minuten lang – kaum der Rede wert. Er deutet Kraus’ Drama allegorisch aus, versucht sich an typologischen Bezügen: zu späteren Kriegen, zu Tiermetaphern, zur Entmenschlichung. Es folgt eine Meta-Diskussion über das Wesen des Krieges, ein symbolisches Weltgericht, eine finalisierende Moral. So weit, so unverständlich. Die inhaltliche und visuelle Überforderung vermag auch der agil gestaltende Peter Rundel nicht einzufangen. Hier dünstet die Partitur zu sehr den Geist der Nachkriegsavantgarde, den Geist seines Schöpfers Manoury aus, der hier wohl vergessen hat, sein Publikum mitzunehmen. Es gilt: Weniger ist mehr. Der erste Teil hätte gereicht – gerne mit mehr Szenen aus Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“. Dafür: luftiger inszeniert.
Oper Köln
Manoury: Die letzten Tage der Menschheit
Peter Rundel (Leitung), Nicolas Stemann (Regie), Konrad Hempel & Claudia Lehmann (Institut für Experimentelle Angelegenheiten (IXA): Mediale Inszenierung & Live-Video-Regie), Tina Kloempken (Kostüme), Elena Siberski (Lichtdesign), Rustam Samedov (Chor), Anne Sofie von Otter, Patrycia Ziolkowska, Sebastian Blomberg, Emily Hinrichs, Tamara Bounazou, Christina Daletska, Johanna Thomsen, Dmitry Ivanchey, John Heuzenroeder, Armando Elizondo, Miljenko Turk, Lucas Singer, Constanze Rottler, Barbara Ochs, IRCAM-Centre Pompidou, Chor der Oper Köln, Gürzenich-Orchester Köln
Termintipp
So., 29. Juni 2025 16:00 Uhr
Musiktheater
Manoury: Die letzten Tage der Menschheit
Nicolas Stemann (Regie)
Termintipp
Fr., 04. Juli 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Manoury: Die letzten Tage der Menschheit
Peter Rundel (Leitung), Nicolas Stemann (Regie)
Termintipp
So., 06. Juli 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Manoury: Die letzten Tage der Menschheit
Peter Rundel (Leitung), Nicolas Stemann (Regie)
Termintipp
Mi., 09. Juli 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Manoury: Die letzten Tage der Menschheit
Peter Rundel (Leitung), Nicolas Stemann (Regie)