Für Astor Piazzolla erstand der Tango aus dem in die musikalische Form verwandelten tönenden Chaos der argentinischen Hauptstadt. In der Titelfigur seiner „Operita“ nimmt die Kapitale menschliche Gestalt an. María geht als Personifikation der Tango-Metropole aus deren Armutsvierteln und Bars hervor. In ihr personifiziert sich der Mythos namens Buenos Aires. Was indes bei Piazzolla und seinem Librettisten Horacio Ferrer legendenhaft, surreal und geheimnisvoll daherkommt, sucht Regisseurin und Choreografin Teresa Rotemberg an der Oper Köln von der Uraufführungszeit der eher liberalen sechziger Jahre ins Folgejahrzehnt und damit die Diktatur Jorge Rafael Videlas umzusiedeln.
Der Transfer überzeugt, mag immer das Mythische der Titelfigur dabei an geheimnisvoller Dimension und schillernder Vielfalt verlieren. Witzig choreografierte Fußballartistik während der in Argentinien ausgetragenen Weltmeisterschaft 1978 und – beklemmend – die Demonstrationen der Mütter der in den geheimen Kerkern des Videla-Regimes gefolterten, darbenden oder gar verschmachtenden politischen Gefangenen auf der Plaza de Mayo bilden Licht- und Schattenseite dieser Jahre ab. Der argentinische Weltmeisterschaftstriumph täuscht nicht über die Pietà der ihren von den Schergen des Diktators misshandelten Sohn in Armen haltenden Mutter hinweg.

Dominante Videos
Nur zu begreiflich daher, wenn sich María auf die Seite des Protests schlägt. Proletarierin, die sie ist, solidarisiert sie sich mit jenen Werktätigen, die in den Fabriken heimlich Transparente mit den Bildern der vom Unrechtsregime Verschleppten anfertigen. Kein Wunder, dass sie selbst im Verhörraum landet. Ob sie mit dem Leben davonkommt, bleibt ungewiss. Ob sie es ist oder eine wesens- und namensgleiche Nachfahrin, die den Sieg der Freiheit erlebt, um final für Frauenrechte auf die Straße zu gehen, nicht minder. Dem Werk bekommt solche Offenheit. Weniger freilich die in Köln erheblich reduzierte Plastizität der Operita.
Inflationäres Kino droht, was auf der Bühne vorgeht, von der Drei- in die Zweidimensionaliät zu verdrängen. Bedauerlich, denn Stefan Bischoffs Videos zünden ein Feuerwerk an wechselnd munter collagierten und ins Gemüt greifenden Einfällen. Wiederholt bleibt das Lachen im Hals stecken. Da saust ein Ford Falcon durch die Lüfte, jene unauffällige Limousine, in der viele Opfer Videlas verschleppt wurden, das Maskottchen der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 will Gewaltherrschaft mit guter Laune übertünchen, abstrakte Muster gleichen Studiodekorationen für die historischen Fernsehauftritte Piazzollas.

Beklemmend die immer wieder den gesamten Bühnenhintergrund einnehmenden aberhundert Porträtfotos der Inhaftierten und Verschollenen. Aufrüttelnd der Massenprotest wider das Regime. Die wenigen jeweils auf die Bühne transportierten Requisiten richten gegen solche Bilderflut nichts aus. Die eher filmische Wahrnehmung gilt selbst Sprechchor und Tanzensemble. Zwar temporeich und aktionsgeladen, lässt Rotembergs Choreografie für Letzteres das Zwingende und Existentielle des Tangos vermissen. Im Lauf der Aufführungsserie werden die Tanzenden an Sicherheit gewiss noch zulegen.
Stimmlich phänomenal
Musikalisch erwirbt die Kölner „María“ vor allem vokale Meriten. Stupend in Stimme und Spiel verkörpert Adriana Bastidas-Gamboa die Titelfigur. Volltönend und geheimnisvoll verschafft Bastidas-Gamboa dem Mythos, aus dem María erwächst, bis in den tagespolitischen Kampf hinein glutvoll-mezzosatte Geltung: womöglich eine Stadtheilige oder gar Göttin, mindestens aber eine Personifikation der Tango-Metropole, in die zahllose Marien samt ihrer Lebensgeschichten Eingang fanden. Bastidas-Gamboa verleiht solcher Einheit aus der Vielfalt vokal funkelnde Präsenz.

Eminentes Stilgefühl für den Tango zeichnet auch Germán Enrique Alcántaras vokales Porträt des Cantador aus. Nicht nur scheint der argentinische Bass die Musik seiner südamerikanischen Heimat mit der Muttermilch aufgesogen zu haben, in Alcántaras höchst erwogener Phrasierung lebt sich das Artifizielle der Musikrichtung aus, als lausche man dem Bassisten in einer Bar der argentinischen Metropole. Quirlig gibt Tatiana Saphir die Erzählerfigur des Duende. Das kammermusikalisch besetzte Gürzenich-Orchester ist auf der Bühne positioniert. Vom Pult aus wird Natalia Salinas mit dem Klangkörper gewiss noch an dynamischer Feinabstufung und Verarbeitung der vielfältigen Einflüsse aus U- und E-Musik auf Piazzollas Tango Nuevo feilen. Versiert lässt sich Omar Massa am Bandoneon vernehmen.
Oper Köln
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie & Choreografie), Tanja Liebermann (Kostüme), Andreas Grüter (Licht), Stefan Bischoff (Video) Macarena Quantin (Sprechchor), Adriana Bastidas-Gamboa, Germán Enrique Alcántara, Tatiana Saphir, Tara Djuric, Omar Massa, Gürzenich-Orchester Köln, Sprechchor, Tanzensemble
Mi., 28. Mai 2025 20:00 Uhr
Musiktheater
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie)
Fr., 30. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie)
Sa., 31. Mai 2025 20:00 Uhr
Musiktheater
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie)
Di., 03. Juni 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie)
Do., 05. Juni 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Piazzolla: María de Buenos Aires
Natalia Salinas (Leitung), Teresa Rotemberg (Regie)