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OPERN-KRITIK: OPER LEIPZIG – LA FANCIULLA DEL WEST

Mit Charme und Colt

(Leipzig, 3.10.2018) In Puccinis Wildwestoper meiden Intendant Ulf Schirmer am Pult und Regisseur Cusch Jung mit Erfolg alle Klischeefallen.

vonRoland H. Dippel,

Er, der Bandit, und sie, der Hoffnungsanker eines Arbeitsteams ohne Goldfieber, schreiten auf der Riesenbühne der Oper Leipzig ins gleißende Gegenlicht einer gemeinsamen Zukunft. Fehlanzeige, trotz Puccinis musikalischer Verklärung! Denn Sheriff Jack Rance richtet den Colt-Lauf auf sich, überlegt es sich doch anders und zielt im Schlussakkord auf den tenoralen Outlaw und seine „Braut“. Indes säuft das abwechselnd von Gefühls- und Gewaltschüben überwältigte Herrencamp im Dunklen ab.
Giacomo Puccinis größter äußerer Erfolg, uraufgeführt 1910 an der New Yorker Met mit den Stars Emmy Destinn und Enrico Caruso, hätte bei der Premiere fast das Rollendebüt von Anja Kampe gebracht. Dann wurde die als Minnie vielfach bewährte Meagan Miller verpflichtet. In der zweiten Vorstellung folgte das glänzende Rollendebüt der Puccini-erfahrenen Karine Babajanyan.

„La fanciulla del West“: Mal keine horse opera

Weitaus weniger Unsicherheit als Puccini, dessen „Fanciulla“-Partitur ein Schweizer Komponist als ziellose Orchestrationsetüde bezeichnete, zeigte der Chefregisseur der Musikalischen Komödie und musicalaffine Cusch Jung bei seinem Operndebüt. Denn weder er noch Intendant Ulf Schirmer ließen sich auf die phonstarken Verführungen aus der pentatonisch aufbrausenden Partitur des „Mädchens aus dem Goldenen Westen“ ein. Guelfo Civininis und Carlo Zingarinis Libretto nach dem Schauspiel von David Belasco, dem Puccini bereits „Madama Butterfly“ verdankte, merkt man an, dass der Komponist fast verzweifelt nach einem Sujet mit Sensationsgarantie suchte. Das sich bald herauskristallisierende Western-Genre erhielt zwar durch David Belascos Figurenkonstellation guten Stoff und auch durch das dröhnende Hauptmotiv Puccinis, doch weniger durch dessen instrumentale Überfülle oder dessen schneidend kontrastierende A-cappella-Stellen. Die Oper Leipzig meidet mit Erfolg Klischeefallen. Also gibt es keine Goldgräber und keine richtige „horse opera“. Minnie jagt ohne das im Textbuch geforderte Pferd zur Rettung ihres geliebten Banditen, dessen Kopf sie hier dennoch aus dem Halsstrick löst. Auch die Kostüme von Karin Fritz greifen als minimale Zugeständnisse nur unvermeidbare Genrezwänge auf. Puccinis „Fanciulla“ ist hier visuell überhöht. Das passt, weil die Partitur in ähnlich stilisierender Höhe über der „realen“ Folklore Amerikas und ihres Schauplatzes Kaliforniens schwebt wie Catalanis „La Wally“ über den Tiroler Alpen.

Heimweh in der Werkhalle

Szenenbild aus "La Fanciulla del West"
La Fanciulla del West/Oper Leipzig © Tom Schulze

Die beeindruckend hohe Werkhalle des ersten Aktes umhüllt später Minnies Holzhütte mit den dort gelagerten Wertsachen ihrer JunX und dann die Fläche, auf der den Banditen Dick Johnson das strafende Ende ereilen soll. Karin Fritz setzt mehr auf Manchester-Industrie als auf Western-Kolorit. Im chorisch begleiteten Tanz Minnies und ihres feschen Dick erkennt man Yankee-Doodle-Schritte. Die Bibelstunde, zu der sich die Arbeiter um Minnie drängen, wird fast zur kollektiven Kuschelstunde. Die spielerische Detailfülle zwischen Herrenchor und Solisten machen den ersten und dritten Akt zum idealen Teamwork der Regie mit den beiden Chorleitern Alexander Stessin und Thomas Eitler-de Lint. Denn nur im Rudel ist dieses Männercamp rau und kerlig. Als Individuen könnten sie alle schreien vor Heimweh, Trennungsschmerz und Depression. Das von Puccini auskomponierte Gewusel an Jammer und Wut ist eine hervorragende Bühnenleistung mit bewegenden Momenten. Kontur gewinnen vor allem Patrick Vogel als Überbesetzung für den von Puccini kaum charakterisierten Kellner Nick, der gewaltbereite Ashby von Randall Jakobsh und der erst emotionale, dann verhärtende Sid von Franz Xaver Schlecht.

Noblesse und Falschspiel

Szenenbild aus "La Fanciulla del West"
La Fanciulla del West/Oper Leipzig: Jack Rance (Simon Neal), Dick Johnson (Gaston Rivero) und Ashby (Randall Jakobsh) © Tom Schulze

Die Produktion sucht wie schon die Leipziger „Lulu“ im Sommer mehr Rundung als Kanten. Im Orchestergraben nach einem ganz einfachen Prinzip: Ulf Schirmer verkehrt im langen ersten Akt mit den allzeit geschmeidigen Bläsern und kammermusikalisch seidigen Streichern die Proportionen. So kommen vom Gewandhausorchester weich flutende „Kamerafahrten“ zwischen Totale und Detail, die Puccinis film-dramaturgische Komposition in Töne verwandeln, während die bombastischen Hauptstimmen zur kultivierten Nebensache werden. Das hat im Dreieckskonflikt des zweiten Akt zur Konsequenz, dass Schirmer vor allem die „Tosca“-Analogien auskostet und dafür die „Turandot“-Vorzeichen entschärft. Minnies Herz steht im akustischen Fokus auch dann, wenn in der Partitur der kräftige Schneesturm braust.

Kein Wunder, dass den Sheriff Jack Rance hier eine Abfuhr ereilt. Cusch Jung setzt Anooshah Golesorkhi in ein recht ungünstiges Licht, gönnt dem Minnie liebenden, in seiner Ehe unglücklichen Mann keinen sympathischen Moment. Dem folgt Anooshah Golesorkhi wie ein echter Western-Schurke mit bombiger Tiefe und leicht brüchigem Höhenkern. Für das Liebespaar aus verkanntem Dieb und bibelfester Frau bringt solche Schwarz-Weiß-Malerei nur Vorteile.

Zum einen beansprucht der Lirico Spinto Gaston Rivero in diesem Klangambiente in Dick Johnson mit Recht eine Partie, die traditionell eher in der Verantwortung von schwereren Tenor-Kalibern liegt, zuletzt Jonas Kaufmann und José Cura. Gaston Riveros an Reserven reiche Höhensicherheit und jeder seiner vielen Goldtöne machen deutlich, warum Minnie beim ihm das Leben rettenden Pokerduell gegen den bösen Sheriff zur Falschspielerin werden muss.

Karine Babajanyan hat in der Titelpartie alle Trümpfe in der Stimme

In der Titelrolle widerlegt Karine Babajanyan souverän alle Vorbehalte vieler Sängerinnen gegen diese Rolle. Nach ihrem ersten Auftritt gleitet sie von mit Wärme gesetzten Parlando-Passagen aus sonst heikler Mezzo-Lage auf die fordernden, von ihr ebenso warm flutend genommenen Spitzentöne. In den Soli, wo Puccini fast mit Gewalt und etlichen Melodie-Bremsen gegen das Softie-Image ankomponiert hatte, schützt sie den Komponisten vor sich selbst und formt vollendete Kantilenen sogar dort, wo eigentlich keine sind. Und sie findet im großen, fast zur Chorkantate geweiteten Schlussgesang eine Empathie, die mühelos alle Forte-Mauern ignoriert, und mit vokalem Können, nicht roher Gewalt, überwindet. Karine Babajanyan liefert letztlich die entscheidenden Argumente dafür, warum sich die Auseinandersetzung mit Puccinis Western-Melodramma lohnt. Erst dezent reservierter, dann gepackt kräftiger Applaus.

Szenenbild aus "La Fanciulla del West"
La Fanciulla del West/Oper Leipzig © Tom Schulze

Oper Leipzig
Puccini: La fanciulla del West

Ulf Schirmer (Leitung), Cusch Jung (Regie), Karin Fritz (Bühne und Kostüme), Alexander Stessin, Thomas Eitler-de Lint (Chor), Karine Babajanyan (Minnie), Anooshah Golesorkhi (Jack Rance), Gaston Rivero (Dick Johnson), Patrick Vogel (Nick), Randalf Jakobsh (Ashby), Jonathan Michie (Sonora), Sejong Chang (Jake Wallace), Herren des Chores der Oper Leipzig, Gewandhausorchester

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