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Opern-Kritik: Staatstheater Meiningen – The Wreckers

Das Dorf des Bösen

(Meiningen, 25.10.2024) GMD Killian Farrell und Regisseur Jochen Biganzoli begeistern in Meiningen mit Ethel Smyths vergessener Oper „The Wreckers“.

vonRoberto Becker,

Die Meininger Hofkapelle hat die Spätromantik in den Genen und mit Killian Farrell einen charismatischen jungen GMD. Im Falle der gerade heftig bejubelten szenischen Erstaufführung der deutschen Urfassung von Ethel Smyths Oper „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen kommt dem gerade mal 30-jährigen Iren wohl auch seine Nähe zu allem, was nach englischer Felsenküste klingt, zu Gute. Die dritte Oper der ehrgeizigen Komponistin und kämpferischen Feministin, die als Frau zu ihrer Zeit nie Kapellmeisterin werden durfte, spielt an der englischen Küste. Nimmt man den ganz großen historischen Rahmen, dann liegt dieses 1906 in Leipzig uraufgeführte, packende und in seiner souverän changierenden Vielfalt des Zugriffs atemberaubende musikalische Prachtstück zwischen Richard Wagner und Benjamin Britten. Das Meer spielt mit und wogt im Graben, die Selbstgewissheit einer verschworenen Dorfgemeinschaft in den Chorsätzen, ganz so wie bei ihrem nachgeborenen Landsmann Britten vor allem in dessen „Peter Grimes“. Und die Leidenschaft für ein ausführliches Liebesduett eines Paares, das auf Erden nicht zueinander finden kann und erst im Tode vereint ist, für den seine Umgebung sorgt, ist an Wagners Ausnahmewerk „Tristan und Isolde“ geschult.

Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen

Ethel Smyth verdient Platz im Repertoire

Aber Smyth lässt sich keineswegs aufs Epigonale reduzieren. Gerade in der Vielfalt ihrer Mittel entfaltet ihre Musik einen eigenständigen Sog. Man darf Farrell wiederum getrost vertrauen, dass seine kürzenden Eingriffe in den dritten Aufzug (er sprach von ca. 17 Minuten) der Wirkung dienen und sie nicht behindern oder verzögern. Jens Neundorff von Enzberg ist nicht der einzige ambitionierte Intendant, der diesen zu Unrecht vergessenen Strandräubern und der obendrein mit ihrer Biografie insgesamt imponierenden Komponistin beispringen und zu Bühnenehren verhelfen wollte. In Karlsruhe inszenierte Keith Warner vor kurzem die englische Version. Im Februar nächsten Jahres wird Daniela Kerck in Schwerin die deutsche Version unter dem Titel „Strandrecht“ inszenieren. Mit so viel konzertiertem Rückenwind hat Smyth eine Chance, vielleicht endlich den Platz im Repertoire zu erobern, der ihr bislang vorenthalten war.

Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen

Das auserwählte Volk der Dorfgemeinschaft

Die Meininger Fassung jedenfalls ist mit der Wucht ihrer musikalischen und vokalen Qualität ein höchst überzeugendes Plädoyer für „Die Strandräuber“. Wohlgemerkt für die Oper, nicht für die Dorfgemeinschaft, die ihre Art von Einkommensgenerierung für ein christliches Gebot und sich selbst für das auserwählte Volk hält, das sich seine eigene Moral und sein eigenes Rechtsverständnis zusammenschustern kann. Dabei ist es nicht mal verwunderlich, dass man ausgerechnet das Treuegebot, das die christliche Bigotterie faktisch vor allem den Frauen aufbürdet, in den Gebotekanon ihrer Parallelwelt übernommen hat.

Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen

Eine moralische Todsünde

Dessen Bruch, der jeder guten Operngeschichte das rechte Quantum an Leidenschaft und Tragik verleiht, ist auch ein wesentlicher Teil des Librettos von Henry Bennet Brewster. Der hatte es zunächst auf Französisch verfasst, da auch Smyth den damals für ihre männlichen Kollegen angesagtesten Uraufführungsort Paris im Sinne hatte. Jedenfalls hat ausgerechnet die Ehefrau des religiösen Anführers dieser seltsamen Dorfgesellschaft Thurza mit Marc einen heimlichen Geliebten. Auf den freilich auch die Tochter des Leuchtturmwärters Avis mehr als ein Auge geworfen hat. Thurza und Marc sind die einzigen, bei denen der moralische Kompass noch funktioniert. Sie sind die beiden, die heimlich für die bei Sturm und Wetter auf die Küste und die Räuber und Mörder zutreibenden Schiffe warnende Leuchtfeuer entzünden. Nach dem Codex der ins Böse gespiegelten Dorfmoral ist das eine Todsünde, die auch mit dem Tode bestraft werden muss. Sie werden gefesselt eingeschlossen. Zwar nicht wie Radamès und Aida in einem Grab. Aber in einer Höhle, in die das Meer vordringen wird. Als Liebestod der besonders finsteren Art ist das nicht minder ergreifend.

Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen

Versuchsanordnung einer auf das eigene Überleben fixierten Gesellschaft

Da Regisseur Jochen Biganzoli und sein Ausstatter Alexandre Corazzola auf jede Küsten-, Fischer- und Dorfromantik verzichten und sich auf einen Kubus mit Milchglasscheiben auf der Drehbühne beschränken, wird das Ganze zu einer Versuchsanordnung, die illustriert, wie eine Gesellschaft völlig exklusiv auf das eigene Überleben fixiert ist, dies für gottgefällig, sprich moralisch, hält und die Abweichler verstößt bzw. vernichtet. Für einen Verweis auf die Gegenwart genügen an die Wände geschriebene Schlagworte. Worte wie Hunger, Allein, Angst oder Not werden nach und nach zu Parolen und Losungen des Trotzes, der Abschottung: „Wir zuerst“, „Wir sind auserwählt“, „Das Unerhörte ist alltäglich geworden“, „Wer versucht uns zu richten, den werden wir richten!“ bis hin zum längst mehrfach kontaminierten „Der Sturm bricht los!“. Jeder kann sich da seinen Vers drauf machen – fündig wird er in der deutschen Geschichte wie in der amerikanischen Gegenwart. Es gibt jedenfalls deutlich abgelegenere Opernstoffe als diesen.

Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen
Szenenbild aus „The Wreckers“ am Staatstheater Meiningen

Faszinierend intensive Rollenporträts

Biganzoli punktet mit einer präzisen Personenregie, baut aber auch auf die Vorstellungskraft der Zuschauer. Den Protagonisten eröffnet das den Raum für faszinierend intensive Rollenporträts. Herausragend Karis Tucker, die als Thurza schon vor zwei Jahren in Glyndebourne geglänzt hat und die Rolle auch in Schwerin übernehmen wird. Selten verbinden sich Wohlklang und Leuchtkraft so selbstverständlich wie bei ihr. Natürlich ist Emma McNairy als Avis die intrigante Rivalin um die Gunst von Marc schlechthin. Alexander Geller gibt den heimlichen Geliebten Thurzas Marc mit strahlender Noblesse. Tomasz Wija hat in der Rolle des Pasko als geistlicher Führer (und betrogener Ehemann) die Chance, dem Fanatiker auch menschliche Züge zu verleihen, und nutzt sie. Mark Hightower als Leuchtturmwärter Laurent, Selcuk Hakan Tiraşoğlu als dessen Schwager Harvey und Tobias Glagau als Wirt sind typische Vertreter der Dorfmoral, die kein Selbstzweifel ankratzt. Dass sich die Wirtstochter Sophie (Sara-Maria Saalmann) in Avis verliebt, mag man als einen augenzwinkernden Gruß aus der Zukunft, die sie nie hatte, an die bisexuelle Komponistin sehen. Roman David Rothenaicher hat den Meininger Chor auf seine Hauptrolle in diesem Stück bestens vorbereitet. Der Jubel am Ende ist vollauf verdient und schließt diesmal besonders die Komponistin mit ein.

Staatstheater Meiningen
Smyth: The Wreckers

Killian Farrell (Leitung), Jochen Biganzoli (Regie), Alexandre Corazzola (Bühne & Kostüme), Roman David Rothenaicher (Chor), Julia Terwald (Dramaturgie), Tomasz Wija, Karis Tucker, Alexander Geller, Mark Hightower, Emma McNairy, Selcuk Hakan Tiraşoğlu, Tobias Glagau, Sara-Maria Saalmann, Chor und Statisterie des Staatstheater Meiningen, Meininger Hofkapelle






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