Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Hinter Gittern

Opern-Kritik: Ruhrtriennale – Aus einem Totenhaus

Hinter Gittern

(Bochum, 31.8.2023) Dmitri Tcherniakov verlegt Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ in die Bochumer Jahrhunderthalle.

vonRoberto Becker,

Es ist eigentlich ein musikalischer Blick in den Abgrund der menschlichen Existenz, was Leoš Janáček da aus Fjodor Dostojewskis auf eigener Verbannungserfahrung beruhendem Roman gemacht hat. Der im Werk Janáčeks singuläre Dreiakter „Aus einem Totenhaus“ wurde 1928 kurz vor seinem Tod vollendet, erst zwei Jahre später uraufgeführt und wird heute eher selten gespielt.

Dabei ist es nicht nur eine Musik mit der für den Mähren typischen, atmosphärischen Suggestionskraft, sondern in ihrem collagehaften Kreisen um das Schicksal Einzelner auch ein bemerkenswerter Schritt weg von der klassischen Opernstruktur. Ein Alterswerk der Moderne sozusagen. Zudem ist es mit seinem auf menschliche Grenzerfahrungen gerichteten Blick, mit all der gezeigten Erniedrigung und Aussichtslosigkeit Ende der zwanziger Jahre, eine prophetische Vorwegnahme all dessen, was das 20. und 21. Jahrhundert noch für politisch ambitionierte Komponisten und Regisseure bereithielten.

Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023
Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023

Das Einreißen der vierten Wand

Es gehört gleichwohl zu den Vorzügen dieser aktuellen Ruhrtriennale-Produktion, dass der vielbeschäftigte russische Regisseur Dmitri Tcherniakov der heutzutage von selbst im Raum schwebenden Versuchung widersteht, plakativ eine aussichtslose Gefangenschaft in einem real existierenden sibirischen Gefangenenlager zu illustrieren. Das kann er getrost aktuellen Nachrichten überlassen und stattdessen nach dem Exemplarischen der literarischen Vorlage und dieser auch für Janáčeks Schaffen besonderen Musik fahnden. Der Ansatz für den Regisseur, der immer auch sein Bühnenbildner ist, liegt im Einreißen jener vierten Wand, die Bühne und Zuschauer gewöhnlich voneinander trennen.

Das ermöglicht auf der Bühne die Verfertigung eines immer artifiziellen und eigenen Gesetzen folgenden Kunstwerkes und den Zuschauern eine Rezeption, die deren aktuelle Lebensumständen und vorgeprägten Erwartungen einschließt. Im besten Fall erreichen diese parallel ablaufenden Prozesse Emotion und Betroffenheit. Begehbare Bühnenräume (wie bei Benedikt von Peter), Platzwechsel von Bühne und Saal (wie sie Altmeister Peter Konwitschny schon erprobt hat) oder die Raumbühnen mit sogar eigenen Namen (wie sie Florian Lutz und Sebastian Hannak zu einer gewissen Virtuosität getrieben haben) sind längst etablierte Versuche, aus der Aufhebung der Trennung von Bühne und Saal ein Plus an Wirkung zu erzielen. Das funktioniert mal weniger, mal mehr.

Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023
Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023

Künstlerisches Gravitationszentrum Jahrhunderthalle

So spektakulär die mit üppigen Gerüstkonstrukten als Gefängnis ausgestattete Jahrhunderthalle beim Betreten auch wirkt, es ist am Ende doch nur eine sehr große Spielfläche mit mehreren Segmenten für die Akteure und am Rand und auf drei Galerien verteilten Stehplatzmöglichkeiten für die Zuschauer.
Sicher, die Technik in der Jahrhunderthalle, die sich in den 21 Jahren seit Gründung und Etablierung der Ruhrtriennale zu deren künstlerischem Gravitationszentrum entwickelt hat und zumeist anregende Produktionen beisteuert, ist so ausgefeilt, dass sich das suggestive Janáček-Charisma im Raum verteilt und ausbreitet. Von ihrem kaum einzusehenden Platz an der Längsseite der Halle machen Dennis Russell Davies und die Bochumer Symphoniker ihre Sache großartig.

Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023
Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023

Die Illusionslücke bleibt

Die distanzlose Nähe zu den Akteuren, die neben den exzellenten Protagonisten und dem seinen idiomatischen Vorteil ausspielenden Chor des Nationaltheaters Brno (wo 1930 die Uraufführung stattfand!) auch noch von sieben gut trainierten Stunt-Männern geradezu akrobatisch eindrucksvoll ergänzt werden, macht die Musik dennoch streckenweise zu einem lediglich begleitenden Hintergrundsound. Natürlich vermittelt sich die Intensität der Darstellung in der Nähe mit mehr Wucht als in der Distanz zur Bühne. Aber man sieht nicht wirklich das Elend, die Verzweiflung, die Aussichtslosigkeit. Sondern man sieht, wie man so etwas spielt, man sieht die Mikroports und die am Boden aufgeklebte Namen, damit auch jeder an der dafür vorgesehenen Stelle landet, wenn gekämpft oder gekrochen wird.

Dem Gefangenenchor-Syndrom entgeht auch Tcherniakov so nicht. Wenn freie Künstler Gefangenschaft und Elend spielen und davon singen, dann bleibt eine Illusionslücke. Dann kann man zwar beschließen, betroffen zu sein – aber es ist wohl doch mehr die Faszination einem Kunstwerk gegenüber, das im besten Falle auf Umwegen Empathie hervorruft. Wobei sich selbst die in Grenzen hält, wenn der Hauptinhalt der Oper vor allem anekdotisch servierte Verbrechen sind, die die Gefangenen hier her in diese Schicksalsgemeinschaft gebracht haben. Da ließe sich einiges auf die Verhältnisse schieben, was weder die Vorlage noch ihr Interpret machen. Was bleibt ist aber ein gerütteltes Maß von eigenem Zutun. Schuld und Sühne ist ja nicht umsonst auch ein Lebensthema von Dostojewski und auch in den Opern von Janáček.

Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023
Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023

Verwischte Grenzen zwischen Publikum und Akteuren

Was Tcherniakov mit seiner Inszenierung und seiner Raumsituation bietet, ist so (metaphorisch) eher ein Blick in den Spiegel von Möglichkeiten und Gefährdungen des Menschen, als wirklich in den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Die Kostüme, die Elena Zaytseva beisteuert, weisen weder ins 19. Jahrhundert noch in den sibirischen Osten, sondern verwischen tatsächlich die Grenzen zwischen Publikum und Akteuren. Einmal ganz handgreiflich, wenn die Gefangenen vor Frauen im Publikum auf die Knie gehen und sie berühren. Ansonsten bietet der in 100 Minuten im wahrsten Wortsinn durchzustehende Abend in der Folge der von einzelnen Gefangenen erzählten Episoden aus der Vergangenheit auch dosierte szenische Aktion.

Zum Auftakt eine Explosion der Bewegung der Gefangenen, die mal an die Luft dürfen und sich dabei kindisch ausgelassen benehmen. Der Neuzugang eines Gefangenen aus besseren Kreisen ist für sie eine willkommene Abwechslung. Dass sich dieser Alexandr Petrovič Gorjančikov (souverän: Johan Reuter) als politischer Gefangener bezeichnet, erspart ihm nicht die Begrüßungsprügel, mit der er hier auf Geheiß des Platzkommandanten (Peter Lobert) empfangen wird, um sich dann alsbald mit Gewalt eine Stellung in der Hierarchie zu sichern. Dass er – wie in der Vorlage – seine Freiheit wieder erlangt, verweigert ihm Tcherniakov. Hier ist es seine grell ausgeleuchtete Phantasie, die durch einen abrupten Lichtwechsel in die Finsternis der Aussichtslosigkeit zurückfällt. Ein Pointe, die sich bedenklich gut nachvollziehen lässt.

Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023
Szenenbild aus Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale 2023

Es bleibt bei einem Ausbruchsversuch

Es ist eine Oper ohne eigentlichen Hauptdarsteller, wenn man mal vom Orchester absieht. Einige ragen dennoch mit ihrer vokalen Präsenz und Spielfreude heraus. Das gilt besonders für John Daszak der als Skuratov gerne den albernen Spaßvogel gibt, für Stephan Rügamer als Luka, der ganz am Ende von Šiškov (Leigh Melrose) ermordet wird, weil er sich als der Filka herausstellt, dem er das Scheitern seines Lebens verdankt. Ein kleines Schmankerl ist der Auftritt von Bühnenveteranen Neil Shicoff in der Rolle des Alten. Die Liste ist lang und erlesen. Am Ende bleibt es ein interessanter Versuch, aus einer direkteren Begegnung mit einem herausragenden Werk einen emotionalen Mehrwert zu ziehen. Es bleibt bei einem Ausbruchsversuch.

Ruhrtriennale
Janáček: Aus einem Totenhaus

Dennis Russell Davies (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Ran Arthur Braun (Live Action Director), Thomas Wegner (Sound Design), Danila Travin (Associate Set Design), Johan Reuter, Bekhzod Davronov, Leigh Melrose, Stephan Rügamer, John Daszak, Alexey Dolgov, Neil Shicoff, Chor der Janáček-Oper des Nationaltheaters Brno, Bochumer Symphoniker

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!