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Opern-Kritik: Staatsoper Hamburg – Falstaff

Feministinnen wettern gegen die Fetten

(Hamburg, 19.1.2020) Regisseur Calixto Bieito blickt mit seiner „Falstaff“-Inszenierung in die Abgründe der modernen Gesellschaft.

vonSören Ingwersen,

Austern schlürfend und Schampus trinkend sitzt er in seinem abgeranzten Sessel. Dieser Falstaff ist kein Genussmensch, sondern ein gelangweilter Vielfraß. Ein schwergewichtiger Vertreter der englischen Unterschicht, der als Koch in einem Pub die Spaghetti zubereitet und als Verführer und Nutznießer wohlhabender Ehefrauen deutlich über seine Verhältnisse lebt. In seiner neusten Inszenierung an der Staatsoper Hamburg zeigt der katalanische Regisseur Calixto Bieito den Titelhelden aus Verdis komischer Oper als einen naiven Großkotz, den man angesichts der lustvollen Verschlagenheit seiner rachsüchtigen Gegenspieler fast sympathisch finden kann.

Die Komik der Figur an ihrer tragischen Fallhöhe bemessen

Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg
Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg

Der italienische Bariton Ambrogio Maestri meistert seine Paraderolle mit staunenswerter Souveränität, bemisst die Komik seiner Figur an ihrer tragischen Fallhöhe und scheut sich auch nicht, seine Körperfülle hüllenlos zur Schau zu stellen. Als Mrs. Alice Ford besticht Maija Kovalevska mit einem klangschönen Sopran, in dem das Feuer der Vergeltung den spielerischen Übermut anheizt. Sie und Mrs. Meg Page (Ida Aldrian) haben von Falstaff einen nahezu gleichlautenden Liebesbrief erhalten und wöllen dem Lüstling eins auswischen. Im Verbund mit Mrs. Quickly, die die junge Russin Nadezhda Karyazina mit einer betörend volltönenden Alt-Stimme ausstattet, bilden die drei Frauen ein Trio, das mit seinen Kampfgesten und Transparenten („Fette Steuern für die Fetten“) bei den Aktivistinnen von Femen gute Chancen hätte. Zu den stimmlichen Zugpferden am Premierenabend gehört neben Hauptdarsteller Maestris zweifellos auch Bariton Markus Brück, der als Alices Gatte Ford Wind von Falstaffs Zudringlichkeiten bekommen hat und dem fülligen Verführer nun seinerseits das Handwerk legen will.

Ein Lampenschirm als perfekte Tarnung

Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg
Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg

Herrlich wie die aufgebrachte Menschenhorde den engen Pup stürmt, der Gesuchte mit einem Lampenschirm auf dem Kopf unentdeckt bleibt, während im oberen Stockwerk Alices Tochter Nannetta (Elbenita Kajtazi) das Tohuwabohu nutz, um mit ihrem verklemmten Liebhaber Fenton (Oleksiy Palchykov) unter der Bettdecke eine Nummer zu schieben. Das rotierende Haus von Bühnenbildnerin Susanne Gschwender verwandelt sich nach dieser Invasion in ein kahles Balkengerüst, in dem der dreckverschmierte Falstaff seine erste Niederlage besingen darf – auf demselben Klo sitzend, auf dem Nannetta kurz darauf zum verheißungsvollen Ruf der Fernhörner über den positiven Schwangerschaftstest erschrickt. Für das letzte Bild unterzieht Bieito den Titelhelden einer symbolischen Kastration, wenn die aufgebrachte Frauenmenge ihm in genüsslicher Langsamkeit die Haare vom Kopf schneidet, während Kajtazi mit Nannettas Arie „Sul fil d’un soffio etesio“ eine wahre Klangblüte sprießen lässt.

Die Welt ist aus den Fugen

Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg
Szene aus „Falstaff“ an der Staatsoper Hamburg

Ob die Welt mit der fulminanten Schlussfuge wirklich wieder in den Fugen ist, darf bezweifelt werden. Allzu aggressiv lässt hier der aufgebrachte Mob die zu Schlagriemen umfunktionierten Gürtel knallen, während man den nackten Oberkörper des zu Boden gerungenen Falstaffs wie eine Reliquie berührt, die einen von den eigenen Sünden reinwaschen soll. Viel Applaus gab es für das stimmstarke Ensemble und das klanglich schön austarierte Philharmonische Staatsorchester, mit dem der Düsseldorfer Generalmusikdirektor Axel Kober leider ein für die Sänger oft zu steiles Tempo vorlegte. Viele Buh-Rufe musste dagegen Regisseur Calixto Bieito einstecken, weil er sich traute, mit dieser Komödie in die Abgründe einer Gesellschaft zu blicken, die ein Opfer braucht, um sich selbst feiern zu können.

Staatsoper Hamburg
Verdi: Falstaff

Axel Kober (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Susanne Gschwender (Bühnenbild), Anja Rabes (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Bettina Auer (Dramaturgie), Ambrogio Maestri (Falstaff), Markus Brück (Ford), Oleksiy Palchykov (Fenton), Jürgen Sacher (Dr. Cajus), Daniel Kluge (Bardolfo), Tigran Martirossian (Pistola), Maija Kovalevska (Alice Ford), Elbenita Kajtazi (Nannetta), Nadezhda Karyazina (Mrs. Quickly), Ida Aldrian (Meg Page), Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Chor der Hamburgischen Staatsoper

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