Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Eine Symphonie des Wahnsinns

Opern-Kritik: Staatsoper Hannover – Lear

Eine Symphonie des Wahnsinns

(Hannover, 10.2.2024) An der Staatsoper Hannover werden in Aribert Reimanns „Lear“ dank der bahnbrechenden Inszenierung von Joe Hill-Gibbins und der dafür nötigen Spitzenbesetzung neue Maßstäbe gesetzt im Ausdeuten von Werken der Avantgarde. Das Publikum feiert das gesamte Haus – zu Recht.

vonPatrick Erb,

Als Aribert Reimann 1978 seinen „Lear“ an der Bayerischen Staatsoper zur Uraufführung brachte, war er nicht der erste, der einen gewissen Reiz in diesem Shakespeare-Stoff sah. Denn die Chronologie der Adaptionen mit „King Lear“-Sujet, einem vorchristlichen König in Britannien, der sein Reich auf seine Töchter verteilen möchte und – nachdem diese gegen ihn intrigieren – in zügellosen Wahnsinn verfällt, beginnt bereits mit einer ganz anderen Figur der Operngeschichte. Kein geringer als Giuseppe Verdi widmet sich seit dem Jahr 1843 der Tragödie des hoch geschätzten britischen Dramatikers, plant, tüftelt, doch bis zum Lebensende bleibt es nur Entwurf – bekanntermaßen wird 1847 der nicht weniger tragisch-wahnsinnige Macbeth und seine Lady zur ersten Shakespeare-Oper.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Doppelte Tragödie

An der Staatsoper Hannover hat man sich den „Lear“ vorgenommen; das Werk in all seinen Facetten analysiert und einstudiert: mit herausragendem Ergebnis. Mit vollem Körpereinsatz und jeder Faser seines Gesichtes gibt Michael Kupfer-Radecky den an Wahn erkrankenden Lear. Der greise König möchte kürzertreten: Er verspricht seinen beiden älteren und auf den eigenen Vorteil bedachten Töchtern Goneril und Regan sein Reich. Lieblingstochter Cordelia enttäuscht ihn, da sie ihre Liebe zum Vater nicht öffentlich bekunden möchte. Sie wird an France mitgiftlos verramscht. Nicht viel später konspirieren die älteren Schwestern gegen ihren Vater, welcher daraufhin als Wahnsinniger mit seinem Narren durch die Heide zieht. Der Tragödie nicht genug, säht der Bastard Edmund Zweifel zwischen seinen Halbbruder Edward und dessen Vater Gloster (– je nach Schreibweise auch Gloucester), um an das Vermögen des Vaters heranzukommen. Beide werden schließlich ebenfalls vertrieben.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Die Kunst der Emotion und des Gesangs

„Lear“ ist eine Melange aus Wahnsinn, Enttäuschungen und zügelloser Missgunst. Zusammen mit der nicht an Komplexität geizenden und vollkommen dissonanten durchkomponierten Musik Reimanns bedarf es an ausdauernden Sängern und Schauspielern zugleich. Kupfer-Radecky vollführt hier Unfassbares: Er singt sich von markanter Intonation zu weinerlichem Geplärre. Der Macho-König mit weißem Pelzmantel vollführt eine Wesenstransformation zum halbnackten, im Regen stehenden und weinenden Irren. Nicht weniger geben allerdings Angela Denoke in der Rolle der Goneril und Kiandra Howarth, die Regan verkörpert. Howarth findet um ein Mü besser das Gleichgewicht zwischen Schauspielerei und raumfüllender Technik, doch sucht das irisierende Vibrato von Sopranistin Denoke gesangsästhetisch ihresgleichen. Beide bilden ein sehr gut abgestimmtes Paar im Singen und Demütigen der männlichen Rollen.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Von restloser Brutalität bis cherubischer Lyrik

Reimanns Partitur ist in der Regel von einer bewusst inszenierten und dem Stück angemessenen Trostlosigkeit. Atonalität und dissonante bis restchromatische Melodiefetzen prägen das zweieinhalbstündige Werk. Doch es treten auch renaissanceartige Figurationen auf: subtil in den Partien der durch Meredith Wohlgemuth dargestellten Cordelia und bewusst in der einem Orpheus nachempfundenen lyrischen Zärtlichkeit des Bettlers Tom. Dieser ärmlich gekleidete Geselle ist das Alter Ego des verstoßenen Edward – beide Figuren werde somit herausragend mit engelsgleicher Artikulation belebt durch Nils Wanderer. Gekleidet in billigen Plastiktüten macht der nicht minder zurechnungsfähige Tom seinem König Lear Konkurrenz. Tatsächlich ist es der Narr, der als einziger eine gewisse geistige Klarheit imitiert. Dargestellt durch Nico Holonics und im pinken Schafskostüm die britische Heide unsicher machend, hat sich diese Sprechrolle seine für das Musiktheater erwartbaren Reimverse bewahrt, wohingegen die restlichen Rollen in Blankversen singen. Es ist der Narr, der den anderen mit zynischen Weisheiten den Spiegel vorhält – und das „gesungen“.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Perkussive Archaik – Archaische Perkussion

Die Oper ist durchkomponiert, in einem Stück gegossen und eher als eine Symphonie mit Gesang zu verstehen. Zu nahtlos sind hier die Übergänge in der Musik, die keine Gnade kennt, sowohl in ihrer Funktion als erdrückendes Klangmiasma, als auch als komplexes, eines erfahrenden Dirigenten bedürfenden Kompositionsstücks. Denn es wird nicht nur ein Orchester im Graben, sondern ein ausgedehnter, auf der Bühne platzierter Perkussionsapparat bespielt. Perkussion spielt in „Lear“ eine wichtige Rolle als ein Stimmungen evozierendes Element – die Archaik der Agierenden wird durch die Archaik der Instrumente immer kommentiert. Und die musikalische Leitung des Abends, Stephan Zilias, führt mit erfrischender Souveränität und stoischer Persistenz durch die auch das Publikum fordernden Klang- und Geräuschmassen.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Das Tier im Menschen

Die Archaik, die in diesem Stück dargestellt wird, trägt Früchte im Verhalten des Bühnenpersonals. Der Zuschauer blickt auf den gesamten Farbkasten negativer menschlicher Gefühls- und Verhaltensweisen. Es ist halb Zoo, halb Kindergarten auf der Bühne, dem das Publikum zuteil wird. Man schreit sich an, prügelt aufeinander ein, weint oder versteckt sich. Lobenswert ist hier der Graf von Gloster, den Frank Schneiders meisterhaft verkörpert. Schneiders lebt diese Rolle, indem er mimisch wie sängerisch weinend an seinen verräterischen Sohn Edmund und dann an sich selbst verzweifelt, als er die Wahrheit erfährt – schließlich beschmiert sich Schneiders die Blendung Glosters darstellend, in einer mitreißend pathetischen Geste mit Blut.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Ein Symbolismus der Moderne

„Lear“ gilt als ein Klassiker der Avantgarde – doch wie inszeniert man die Avantgarde klassisch? Ist es nicht das Wesen der Avantgarde, durch das noch nicht Dagewesene zu provozieren? Die Musik liefert das jedenfalls. Und Joe Hill-Gibbins findet einen Weg, diesen Widerspruch zu lösen. Mit einer Studiobühnen-Optik ist der Raum voll einsehbar. Inmitten der Bühne ein riesiger weißer Würfel, der aus vielen kleinen Pappwürfeln zusammengebaut ist. Er steht für das Reich Lears. Bröckelt seine Macht, fängt auch der Würfel an zu bröckeln. Mit diesen Fragmenten wird geworfen, auf sie getreten und eingestochen. Auch die Kostümierungen der Charaktere sprechen eine eindeutige symbolistische Bildsprache, wechseln doch die weißen Kleider von Goneril und Regan zusehends zu roten. Schließlich ist das gesamte Konzept aus den wechselnden Farben der Lichtröhren und das Spiel mit den Theaterebenen selbsterklärend gelöst. Die Abstrahierung des britischen Kontextes gelingt hervorragend, und das moderne Stück bekommt durch moderne, bisweilen geometrisch klare Formen, einen zeitlosen Anstrich.

Szenenbild aus „Lear"
Szenenbild aus „Lear“

Die Staatsoper Hannover liefert eine fesselnde Vorstellung mit überzeugendem Regiekonzept und glänzenden, zu Recht gefeierten Darstellern. Die Musik Reimanns wirkt dank der Leistung aller Beteiligten alles andere als unverständlich oder abschreckend. Man bekommt einen Zugang zu diesem auskomponierten Irrsinn von Shakespeares Meisterwerk und kann sich schließlich vorstellen, an welchen dramatischen Komplexitäten Verdi wohl vergebens getüftelt haben muss.

Staatsoper Hannover
Reimann: Lear

Stephan Zilias (Leitung), Joe Hill-Gibbins (Regie), Tom Scutt (Bühne), Evie Gurney (Kostüme), Andreas Schmidt (Licht), Johannes Berndt & Lorenzo Da Rio (Chor), Sophia Gustorff (Dramaturgie), Michael Kupfer-Radecky, Yannick Spanier, Darwin Prakash, Pawel Brozek, Marco Lee, Frank Schneiders, Nils Wanderer, Robert Künzli, Angela Denoke, Kiandra Howarth, Meredith Wohlgemuth, Nico Holonics, Fabio Dorizzi, Ingolf Kumbrink, Herren des Chores der Staatsoper Hannover, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!