Feiern bis zum Umkippen – und bei Todesfolge weiterbechern. Maßloser Alkoholkonsum, das unbedachte Ausreizen körperlicher Grenzen, hat meist ernste Folgen. Die endgültige scheint den stark gealterten Titelhelden in Lydia Steiers Neuinszenierung von Jacques Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden schon zu Beginn ereilt zu haben. Ein Wrack, mental wie körperlich ergraut, nur noch ein Schatten seines einstigen Intellekts als Dichter und Gelehrter. Oder ist alles nur Traum? Die routinierte Überreizung des eigenen Trinkkonsums, die Rettungssanitäter, der stickige Nebel, der im ersten Bild, einer New Yorker Gasse mit Blick auf die Brooklyn Bridge, aus der Unterwelt emporsteigt?
Zwischen Dante und Dickens
Schlussendlich spielt die Deutung des Prologs keine entscheidende Rolle: Steiers klare Erzählweise, weit entfernt von tollkühnen Regiekniffen, wie sie bei Mariame Clément in Salzburg im Sommer 2024 noch prominent floppten, lässt beide Lesarten zu. Im Zentrum steht Hoffmanns Läuterung, in der Teufel und Engel um seine Seele ringen. Ähnlich wie in Dickens’ „A Christmas Carol“ begibt sich Hoffmann in seinen Erzählungen auf Seelenschau. Ob bloßgestellt durch seine Liebe zum Automaten Olympia, erschüttert vom Tod der großen Liebe Antonia oder verstrickt in die Affekt-Tat an der Kurtisane Giulietta: Hoffmann blickt auf vergangene Taten zurück, oft mehr Zuschauer als Akteur.

Der Teufel fungiert dabei als Conférencier seiner eigenen Versuchungsschau. Als Lindorf und Coppélius über Dr. Miracle bis zu Dapertutto erscheint er in bedrohlich vielen Gestalten. Der Engel hingegen ist die Muse des Künstlers, die in jeder Episode retrospektiv versucht, das Schlimmste zu verhindern und Hoffmann wie Vergil in Dantes „Divina Commedia“ zur Seite steht. Nach jeder Episode kehrt das Trio in Luthers Bar zurück, wo – passend illuminiert durch eine „Purgatory“-Neontafel – im grünen Absinthdunst die Läuterungsparty weitergeht.
Feine Übergänge vom ernsten zum heiteren Genre
Bei aller Lebens- und Liebestragödie bleibt das Drama charmant grundiert und ist stets mit dem offenbach’schen Augenzwinkern zu betrachten – und mit breiter, unerschöpflicher Palette an Querverweisen bis hin zu Michael Jacksons „Thriller“. So entwaffnet Steier etwa den Teufel, der in seiner natürlichen Höllengestalt als Gehörnter mit grotesk überzeichnetem Geschlechtsteil erscheint, das erstmal sorgfältig adjustiert werden muss. Der wiederum wird von einer Schar kleiner Teufel umringt, Tänzer, die das Stück mit operettenhafter Posse beleben. Schließlich besteht Hoffmann die Versuchung. Gescheitert als Mensch, darf er ins „Paradis“, wozu ihm, als ironische Brücke zurück ins New York der 1930er oder 1940er Jahre, ein Paternoster verhilft.

Über das charakterliche Naturell hinausgehen
So reichhaltig und unterhaltsam Steier ihre Bildwelten gestaltet, so tadellos ist die Besetzung. Der samoanische Publikumsliebling Pene Pati darf als widerwärtiger Wüstling Hoffmann sein gewohntes sympathisches Profil um 180 Grad drehen, was ihm schauspielerisch wie in der dramatischen Phrasierung gleichermaßen gelingt. Von der fast akademisch-zynischen „Kleinzach“-Arie bis zum tief empfundenen Duett mit Antonia überzeugt alles. Sein vielgerühmtes, honigsüßes Timbre wirkt dabei als natürlicher Stoßdämpfer gegen jede karikatureske Überspitzung.
Roberto Tagliavinis fünf fratzenhafte Rollen gelingen mit seltener farblicher Vielgestalt und großer spielerischer Kunstfertigkeit. Ernstes Begehren nach Hoffmanns Seele verbindet sich bei ihm mit komödiantischer Präzision im Zusammenspiel mit den übrigen teuflischen Gestalten. Nicklausse, mit dynamisch schlagkräftiger Munition ausgestattet von Ema Nikolovska, bleibt als Engel von reiner Seele naturgemäß blasser als die schillernden Figuren der Demi-monde. Serena Sáenz gestaltet eine Olympia von liebevoller Ironie: als zarte Koloraturpuppe in weihnachtlicher Verpackung, im festlich drapierten Kaufhaus ausgestellt. Julia Kleiter begeistert als Antonia, die mit großer Geste keinen Unterschied mehr macht zwischen der Liebe zum Gesang und der Liebe zu Hoffmann.

Musikalischer Rückhalt
Musikalisch zeigt sich Bertrand de Billy zurückhaltend. Angesichts so reicher Bühnenerfindungen (Momme Hinrichs) und großartig durchchoreografierter Chorszenen – der Staatsopernchor überzeugt mit pathosfreiem Klang – wäre eine allzu revolutionäre Lesart von Offenbach womöglich hinderlich. Also bleibt die Musik im Spannungsfeld zwischen operettenhafter Leichtigkeit und Dramatik, folgt der Handlung deskriptiv, ohne eigene radikale Akzente zu setzen.
Als erste späte Neuproduktion an der Staatsoper Unter den Linden, kurz nachdem die letzten schweren Wogen des „Ring“-Zyklus verklungen sind, bietet „Les Contes d’Hoffmann“ einen gelungenen, weichen Übergang in die Vorweihnachtszeit: ein kurzweiliges illustres Kleinod mit vielfältigem Unterhaltungswert.
Staatsoper Unter den Linden Berlin
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie), Momme Hinrichs (Bühne & Video), Ursula Kudma (Kostüme), Olaf Freese (Licht), Tabatha McFadyen (Choreografie), Dani Juris (Chor), Pene Pati, Serena Sáenz, Julia Kleiter, Sonja Herranen, Roberto Tagliavini, Ema Nikolovska, Ya-Chung Huang, Manuel Winckhler, Staatsopernchor Berlin, Staatskapelle Berlin
Termintipp
Mi., 19. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Pene Pati (Hoffmann), Nina Minasyan (Olympia), Ema Nikolovska (La Muse/Nicklausse), Julia Kleiter (Antonia & Stella), Clara Naadeshdin (Giulietta), Manuel Winckhler (Luther), Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Fr., 21. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Pene Pati (Hoffmann), Nina Minasyan (Olympia), Ema Nikolovska (La Muse/Nicklausse), Julia Kleiter (Antonia & Stella), Clara Naadeshdin (Giulietta), Manuel Winckhler (Luther), Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Mi., 26. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Pene Pati (Hoffmann), Nina Minasyan (Olympia), Ema Nikolovska (La Muse/Nicklausse), Julia Kleiter (Antonia & Stella), Clara Naadeshdin (Giulietta), Manuel Winckhler (Luther), Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Fr., 28. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Pene Pati (Hoffmann), Nina Minasyan (Olympia), Ema Nikolovska (La Muse/Nicklausse), Julia Kleiter (Antonia & Stella), Clara Naadeshdin (Giulietta), Manuel Winckhler (Luther), Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Do., 04. Dezember 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Offenbach: Les Contes d’Hoffmann
Pene Pati (Hoffmann), Nina Minasyan (Olympia), Julia Kleiter (Antonia & Stella), Sonja Herranen (Giulietta), Manuel Winckhler (Luther), Bertrand de Billy (Leitung), Lydia Steier (Regie)



