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Opern-Kritik: Staatstheater Meiningen – Don Carlos

Tarnungen und ganz hohe Verdi-Kompetenz

(Meiningen, 6.9.2024) Verdis längstes Meisterstück wird zu einem sensiblen wie packenden Panorama, welches einer der aufregendsten Opern des 19. Jahrhunderts auf bemerkenswert hohem Niveau gerecht wird. Musikalisch wie szenisch.

vonRoland H. Dippel,

Von wegen: Giuseppe Verdis an der Pariser Oper im Weltausstellungsjahr 1867 uraufgeführte Grand opéra „Don Carlos“ nach Friedrich Schiller ist gegenüber der späteren französischen Fassung von 1886 bei weitem nicht so ausufernd wie befürchtet. Am Staatstheater Meiningen bleibt man – wie auch Joana Mallwitz vor einigen Jahren in Nürnberg – locker unter vier Stunden mit einer reinen Musikdauer von nur drei Stunden und zehn Minuten. Einen einzigen und etwas unsensiblen Strich genehmigte man sich im Schlussduett, wenn Carlos ohne Elisabeths heroische Befeuerungsstrophe sofort in traurige Abschiedseuphorie verfällt. Insgesamt gab es am Freitagabend eine glänzende Premiere unter der szenischen Gesamtleitung von Achim Freyer für Bühne, Kostüme und Inszenierung sowie einer Sternstunde der Staatskapelle Meiningen und ihres jungen GMD Killian Farrell. Es agierte ein charakterstarkes und überwiegend ideales Ensemble mit vielen Farben zwischen Feuer und Eis.

Mit klaren Signalen

Man kann von einer paradigmatischen Freyer-Produktion sprechen. Am Ende geht der Großinquisitor – so für das eigentlich im 16. Jahrhundert spielende Intrigen-, Freiheits-, Liebes- und Ideendrama nicht vorgesehen – trotz Scherenkrücken zu Boden. Elisabeth von Valois und Don Carlos stehen starr wie Ikonen eines Freiheitskampfes, zu denen der bereits erschossene Idealist und Stratege Posa tritt.

Szenenbild zu „Don Carlos“
Szenenbild zu „Don Carlos“

Eine Königin mit großem Leid und kleiner veredelnder Exaltation

Die Beziehungen zwischen den Figuren sind klar entwickelt und vom historischen Kontext befreit. Damit agiert Freyer so unbefangen wie der Jenaer Geschichtsprofessor Schiller mit dem historischen Hintergrund seines Dramas. Die emotionalen Verflechtungen aus einer fast erotischen Freundschaft und politischen Konspiration zwischen Carlos und Marquis Posa zeigen sich ohne direkte Berührungen. Elisabeth von Valois ist eine Königin mit großem Leid und kleiner veredelnder Exaltation. Prinzessin Eboli wächst von der Intrigantin zur Sympathiefigur. Nur für die Zerrissenheit des Tyrannen Philippe II. fielen Freyer und seinem Stab zu wenig ein.

Starke Chorszenen

Die Massen, Eliten, Ketzer und der geheimnisvolle Mönch waren wirkungsvoll posiert. Generell imponiert, wie Chor und Extrachor des Staatstheaters Meiningen unter der Leitung von Roman David Rothenaicher mit passgenauer Synergie im Sinn von Farrells Klangvorstellungen agieren. Auch in der größten Fülle und Flutung der Autodafé-Szene bleiben alle Stimmgruppen bestens erkennbar. Typisch Freyer: Die Chormassen sind schwarz verhüllte Lemuren mit vermummten Augen. Die Hofdamen halten sich Prinzesschen-Larven vor die Augen, und nach der lautstarken Miniatur-Revolte im Kerker bleiben die Transparente mit Schlagworten zur politischen Gegenwart auf der Bühne.

Szenenbild zu „Don Carlos“
Szenenbild zu „Don Carlos“

Das wirkliche Wollen der Figuren hinter ihren sozialen Rollen

Aus dem Innenfutter der Kostüme schälen sich – bei den Liebenden etwa Rot unter Weiß – immer wieder Farben, welche das wirkliche Wollen der Figuren hinter ihren sozialen Rollen artikulieren. Wer da wen belauscht, wer da Geheimnisse aus Schatullen, Briefen und Silhouetten entwendet und wer sich da maskiert oder mit hohem Risiko seine wahren Emotionen entblößt, erschließt sich aus Freyers farbintensiv abstrakten Bildern treffend und bezwingend. Gerade durch die choreographische Modellierung der Sänger ermöglichte dieses Eindringen in die mit Details gespickte Handlung das Verständnis. Daran merkt man auch das umsichtige Mitwirken von Gastdramaturg Klaus-Peter Kehr.

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Die ideale Fassung von Verdis längster Oper

Verdis hier verwendete Modena-Fassung von 1886 stellt vor allem eine Rückübersetzung der stark gestrafften und verdichteten Mailänder Fassung 1884 von der italienischen in die französische Sprache dar. Etwas gekürzt fügte Verdi aus der Pariser Uraufführungsfassung den ersten Fontainebleue-Akt, welcher die beginnende Liebe von Carlos und Elisabeth sowie deren politisch motivierte Heirat mit Carlos‘ Vater Philippe II. zeigt, wieder ein. Im Gleichklang mit Verdi agiert Freyer „erinnerungsmotivisch“. Freyer entwickelte für jede Figur ein spezifisches Bewegungsvokabular, was sich im Laufe des Abends durch die Interaktion einer Figur mit den anderen variiert und wandelt.

Szenenbild zu „Don Carlos“
Szenenbild zu „Don Carlos“

Transparente Strenge in ungewohnt hellen und klaren Farben

GMD Killian Farrell zeigt für Verdis längstes Meisterstück eine transparente Strenge in ungewohnt hellen und klaren Farben. Mit ausgezeichneter Balance und nobler Distinktion hält sich die Meininger Hofkapelle in den ersten 90 Minuten, entwickelt gerade dadurch mit den von Farrell exzellent geführten Sängerinnen und Sängern ein schillerndes Spektrum an Details. Farrell lässt sich viel Zeit für die erste Fortissimo-Volldröhnung, welche nach den ersten hundert Spielminuten erst mit dem Fortissimo-Geläut zum Autodafé beginnt. Musik und Szene betreiben Charisma-Enttarnung an weltlicher und klerikaler Macht. Die Stimme vom Himmel (seraphisch: Dorothea Böhm) schaut aus wie ein böser Geist von unten. Mark Hightower gibt den Großinquisitor nicht mit nachtschwarzer Stimme, sondern als einen scharfzüngig agilen Konversationsstrategen. Super-Softskill zeigen die hochklassig besetzten Nebenpartien: Der Bassbariton Hans Gebhardt als Graf von Lerme und Herold, Tomasz Wija als Mönch und vor allem Sara-Maria Saalmann als Thibault.

Szenenbild zu „Don Carlos“
Szenenbild zu „Don Carlos“

Packende scharfe Figurenkontraste

Dabei ist das Quintett dieser Hauptpartien definitiv hörens- und sehenswert: Marianne Schechtel hat alle Mittel für den perfide hohen Mezzo-Part der Eboli. Shin Taniguchi kontert als Posa mit Schärfe und Samt. Dara Hobbs findet nach zahlreichen Auftritten im schweren Fach als Elisabeth von Valois endlich in die für sie goldrichtigen Vokalregionen des jugendlich-dramatischen Fachs. Bemerkenswert sind ihre klar gefassten, manchmal leicht kühl wirkenden Linien in den mittleren Registern und die feine Anreicherung des klaren Timbres mit feinherber Vibrato-Hysterie. Matthew Vickers dagegen brilliert als Antiheld Carlos nahezu ideal mit Schmelz und betörenden Schattierungen im gerade noch leichten, stellenweise sogar grazilen Tenor. Selcuk Hakan Tiraşoğlu zeigt einen Philippe, welcher in den Herrscheraufgaben eher flach funktioniert, als dass er Härten zeigt. Insgesamt gerät dieser Meininger „Don Carlos“ zu einem sensiblen wie packenden Verdi-Panorama, welches einer der aufregendsten Opern des 19. Jahrhunderts auf bemerkenswert hohem Niveau gerecht wird.

Staatstheater Meiningen
Verdi: Don Carlos

Killian Farrell (Leitung), Achim Freyer (Regie, Bühne & Kostüme), Sebastian Bauer (Co-Regie), Moritz Nitsche (Co-Ausstattung), Roman David Rothenaicher (Chor), Julia Terwald (Dramaturgie), Klaus-Peter Kehr (Gastdramaturgie), Dara Hobbs, Marianne Schechtel, Matthew Vickers, Shin Taniguchi, Selcuk Hakan Tiraşoğlu, Mark Hightower, Hans Gebhardt, Tomasz Wija, Sara-Maria Saalmann, Dorothea Böhm, Chor des Staatstheaters Meiningen,  Extrachor des Staatstheaters Meiningen, Meininger Hofkapelle






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