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Opern-Kritik: Theater Bonn – Musik für die Lebenden

Werden wie die Kinder

(Bonn, 15.6.2025) Gija Kantschelis Oper „Musik für die Lebenden“ ist in Zeiten des Krieges das Stück der Stunde. Hier liegt selbst die Sprache in Trümmern, doch aus den Fragmenten entsteigt Gesang. Eine zutiefst berührende Premiere.

vonMichael Kaminski,

Ob vorsätzlich oder nicht, große Kunst nimmt vorweg. Der georgische Tonsetzer Gija Kantscheli und sein Librettist Robert Sturua siedeln den ersten der beiden Akte ihrer Oper „Musik für die Lebenden“ in einem zerstörten Theater an, in das sich Kinder vor den Unbilden des Krieges geflüchtet haben. Schon 1984 in Tiflis uraufgeführt, stellen sich dennoch unmittelbar die Bilder des von russischen Bomben in Schutt und Asche gelegten Mariupoler Schauspielhauses ein. Zumal Putins Soldateska durch das in Riesenbuchstaben auf den Theatervorplatz geschriebene „Kinder“ völlig im Bild war. In Kantschelis Oper zeigt sich am Theater Bonn nicht bloß der Zufluchtsort schwer getroffen, überdies liegt die Sprache in Trümmern. Die Kinder bedienen sich sumerischer – altorientalischer – Wortfetzen. Doch steigt selbst aus den Fragmenten Gesang. Im weitesten Sinn religiöser. Kantscheli hatte Sinn für die Kirchenmusik seiner georgischen Heimat. Die Reinheit der Kinderstimmen verdichtet die sakrale Aura.

Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn
Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn

Umerziehung durch Bespaßung

Regisseur Maxim Didenko schüttet dennoch keinen billigen Zuckerguss vermeintlichen Trostes über die Angst der Mädchen und Jungen. Gesang tüncht kein Leid, indessen hilft er, entweder bei sich zu bleiben oder zur Rückkehr ins Selbst. Freilich nur für den Augenblick. Unter brachialem Marschgetöse greifen sich die Okkupanten einige der Kinder, um sie in Uniformen zu stecken. Paramilitärische Disziplin geht Hand in Hand mit ideologischer Umerziehung durch brutalen Kitsch. Die Bespaßung suggeriert – in gerader Umkehrung der Fakten – die Vertreter der Besatzungsmacht als harmlose Häschen, die Unterjochten als böses, Hasenbabys raubendes Krokodil. Was die Eroberer Gerechtigkeit nennen, siegt. Solidarisch und noch immer niedlich, füsilieren daher die Langohren die fiese Panzerechse. Belustigung mündet in gnadenlose Ausbeutung der kindlich-religiösen Empfindungen. Ein Brillantwalzer peitscht die Mädchen und Jungen zur Anbetung einer Rakete jenes Typs, der den Kulturbau – ihren Unterschlupf – in Trümmer legte. Wahrlich, wo Sein oder Nichtsein zur Frage von unterjochtem Leben oder gewaltsamem Sterben wird, da schreibt Kantscheli erzsarkastisch das Shakespearezitat einem Ragtime mit Showstopperqualitäten ein.

Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn
Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn

Bizarre Mechanik der italienischen Operndramaturgie

Regisseur Didenko nimmt die bitterböse Geste auf, indem er – zu des Stückes Vorteil – hier wie im Folgeakt – recht frei mit den inflationären Szenenanweisungen schaltet und waltet. Denn in der dort eingeschobenen Miniaturoper „Liebe und Pflicht“ greifen Stereotype der Operndramaturgie präzisionsmechanisch ineinander. Politische Kabalen, verquickt mit Liebe, Eifersucht, Rachegelüsten, italienischem Freiheitsdurst und napoleonischer Besatzerbrutalität schwelgen – samt barockisierender und dem Belcanto frönender Einsprengsel – im Puccini und seine Zeitgenossen anverwandelnden Melos. Dem Showbizz huldigend, peppt Didenko alles dies revuehaft und zum Mordsspektakel im wahrsten Wortsinn auf, bis die Leichen der vier Protagonistinnen und Protagonisten den Boden bedecken.

Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn
Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn

Hymnisches Finale der Oper in der Oper

Keine Frage, das Metatheater dürfte amüsieren, wären nicht dessen Ensemble und Publikum an Treffergenauigkeit zulegendem Artilleriebeschuss ausgesetzt. Der reale Tod erlangt Oberhand. Freilich behält er weder das letzte Wort noch den letzten Ton. Beide gehören den Kindern. Weil auch die Natur sich in den Ruinen neue Biotope erschließt, möchte das hymnische Finale durch allgemeine Harmonie erfreuen. Wenn Didenko die Kinder dazu Grünpflanzen auf die Bühne tragen lässt, als gelte es einen Schulgarten zu bestücken, greift das zu kurz. Zumal der prächtige Baum im Hintergrund zur Genüge auf das Idyll einstimmt. Bühnen- und Kostümbildnerin Galya Solodovnikova situiert die Geschehen in einem komfortablen, aber vom Krieg ramponierten weniger Theater- denn Veranstaltungssaal, dessen Guckkastenbühne auch zu Theateraufführungen taugt. In der Hasenwelt beweinen Wölkchen die Entführung des Hasenbabys und ziehen Raketen munter ihre Bahn. Die italienische Oper taucht sich gleichermaßen in schrille Kulissenbühne, Rokokomode und Broadwayglamour.

Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn
Szene aus „Musik für die Lebenden“ am Theater Bonn

Überzeugendes Plädoyer für das ergreifende Werk

Kollektive samt Solistinnen und Solisten erweisen die Repertoirefähigkeit der „Musik für die Lebenden“. Den Kinder- und Jugendchor des Hauses begeistert Ekaterina Klewitz zu Phänomenalem. Aus den Mädchen und Jungen tönen Reinheit und Innigkeit. Wer sie hört, wird vielleicht nicht gottgläubig, doch weltfromm. Jedenfalls greift es zutiefst ins Gemüt. Jugendchor-Solistin Clélia Oemus gibt viel zu hoffen. Der Opernchor des Hauses unter André Kellinghaus trumpft monumental auf. Daniel Johannes Mayr kostet mit dem Beethoven Orchester Bonn die zwischen den geistlichen und weltlichen musikalischen Idiomen Georgiens einerseits, Strawinsky-, Schostakowitsch- und Schnittkeanklängen andererseits polystilistisch schillernde Partitur weidlich aus. Solistinnen und Solisten formieren sich zum Ensemble aus einem Guss. Ralf Rachbauer wartet für den beim Bombenangriff erblindeten alten Mann mit einer bedrückenden tenoralen Charakterstudie auf. Seinen Blindenführer gibt die anrührende Valérie Ironside. Tänzerin Manon Greiner ist die Kinder und Erwachsene bedrohende Frau mit Peitsche. Aus den Figuren der Minioper sei die aufopfernd liebende Silvana der Katerina von Bennigsen hervorgehoben.

Theater Bonn
Kantscheli: Musik für die Lebenden

Daniel Johannes Mayr (Leitung), Maxim Didenko (Regie), Galya Solodovnikova (Bühne & Kostüme), Oleg Mikhailov (Video), Boris Kahnert / Jorge Delgadillo (Licht) Sofia Pintzou & Alexander Fend (Choreografie), André Kellinghaus (Chor), Ekaterina Klewitz (Kinder- und Jugendchor), Ralf Rachbauer, Valérie Ironside, Uri Burger, Manon Greiner, Clélia Oemus, Tae Hwan Yun, Tianji Lin, Katerina v. Bennigsen, Ava Gesell, Giorgos Kanaris, Tanzensemble, Beethoven Orchester Bonn, Chor des Theater Bonn, Kinder- & Jugendchor des Theater Bonn






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